„Wer Tiere retten will, muss Realist werden“

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Vegan Italy Interview (Nr. 17, Februar 2017)

Helmut F. Kaplan
„Wer Tiere retten will, muss Realist werden“

VI: Herr Kaplan, Sie sind Vegetarier seit 1963. Was sind Ihre schönsten Erinnerungen an mehr als 50 Jahre im Zeichen des Tierwohls? Gab es auch kritische Momente?

Kaplan: 1963 war ich elf Jahre alt und mit der wirklichen Tierrechtsarbeit begann ich erst viele Jahre später – nach zwei Studien, die ich für diese Aufgabe gewählt hatte: Psychologie und Philosophie. In meinem Buch „Leichenschmaus“ beschreibe ich meine Situation vor dem Einstieg in die Tierrechtsarbeit so:

„Dem endgültigen Entschluß, kein Fleisch mehr zu essen, ging natürlich eine Entwicklung voraus: das Wissen um das unendliche Leiden der Tiere, die Erkenntnis, daß dieses Leiden ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen ist, und vor allem Trauer und Zorn über die eigene Ohnmacht …. Das Schlimmste zu jener Zeit war aber … das Gefühl, der einzige zu sein, der diese Verbrechen überhaupt SIEHT. ( … ) Ich kam mir vor wie der sprichwörtliche Rufer in der Wüste, mehr noch: wie der einzige Gesunde in einer Nervenheilanstalt, in der nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte geisteskrank sind.“

Als ich dann begann, mich systematisch in die Tierethik einzulesen, stellte ich zu meiner großen Überraschung fest, daß das, was ich bisher nur intuitiv und vage erfaßt hatte, von Philosophen bereits theoretisch durchdrungen und ausformuliert worden war: von Peter Singer, Tom Regan und anderen. Das war eine große Freude und Erleichterung! In gewisser Weise aber auch eine Enttäuschung – darüber, nicht der Erste zu sein, der das immense Unrecht gegenüber Tieren erkennt, philosophisch einordnet und argumentativ auf den Punkt bringt. Immerhin kann ich mich damit trösten, wesentlich zur Einführung der englischsprachigen Tierrechtsphilosophie in den deutschen Sprachraum beigetragen und den Tierrechtsbegriff im Hinblick auf Nachvollziehbarkeit und Anwendbarkeit weiterentwickelt zu haben.
Buchstäblich kritisch war es, als ich mehrfach beschuldigt wurde, Gewalttaten gutzuheißen oder dazu aufzurufen, weil ich mich positiv im Hinblick auf Tierbefreiungen und dergleichen geäußert hatte. Noch belastender und für die Tierrechtsbewegung schädlicher sind aber die Selbstzerfleischungstendenzen in der Bewegung. So werde ich etwa von einigen als rechtsextrem verleumdet, weil ich den speziesistischen Terror gegen Tiere mit dem Nazi-Terror gegen Juden und andere „minderwertige“ Rassen oder Gruppen vergleiche. International sind solche Vergleiche absolut üblich. Man denke nur an das Diktum des jüdischen Literaturnobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer: „Wo es um Tiere geht, wird jeder zum Nazi.“

VI: 2013 haben Sie „Vegan soll keine Religion sein“ veröffentlicht, ein Essay, das sich so kurzfassen lässt: Wer Tiere retten will, muss Realist werden. Glauben Sie also, einer der Gründe für die extreme Langsamkeit der Fortschritte in puncto Tierrechte sei die Tendenz der Aktivisten, sich in Schwärmereien zu ergehen statt pragmatische Strategien zu entfalten?

Kaplan: Auf alle Fälle! Der Vegetarierbund Deutschlands veröffentlicht seit Jahrzehnten sagenhafte Vegetarier-Zuwachsraten, in den letzten Jahren auch Veganer-Zuwachsraten. Würden die auch nur ansatzweise stimmen, gäbe es längst 150 Prozent Vegetarier bzw. Veganer! Die Medien beschwören seit Jahren einen Veggie-Boom und Vegan-Hype. Kein Wunder, daß es mittlerweile ein geflügeltes Wort ist, daß der Veganismus endlich „mitten in der Gesellschaft angekommen“ sei. Tatsächlich ist der Pro-Kopf-Fleisch-Verzehr in Deutschland aber seit 20 Jahren konstant! Irgendetwas stimmt hier also nicht. Dennoch hat diese Euphorie die Aktivisten dazu verführt, nur mehr auf Mode, Spaß und Coolness zu setzen und sich das aufwendige ethische Argumentieren zu ersparen. Und das hat – Stichwort: Politik; wir kommen darauf zurück – fatale Folgen. Außerdem sollten sich diejenigen, denen die „Veganisierung der Gesellschaft“ am Herzen liegt, anstatt über die Abweichler in den eigenen Reihen herzufallen, weil sie „nur“ zu 99 Prozent vegan sind, lieber um die überwiegende Mehrheit der Fleischesser kümmern!

VI: Das Internet ist eine wichtige Quelle für Ihr Buch, sowie ein Ort, den Sie schon lange frequentieren. Vor der Zeit der sozialen Netzwerke haben Sie zum Beispiel eine sehr lebhafte Yahoo-Gruppe gegründet und moderiert. Heutzutage scheint das Internet mehr ein Ort des Streitens zu sein (Trolling usw.) als eine produktive, politische Plattform. Wie kann man dieses Phänomen strategisch umkehren?

Kaplan: In diesem Fall bildet das Internet wohl lediglich die „analoge Wirklichkeit“ ab. In der gibt es ja auch kaum konstruktive, substantielle Diskussionen über Tierrechte – sondern v. a. Angriff und Ausgrenzung. Andererseits ist das Internet heute natürlich so etwas wie das Leitmedium – das sowohl virtuelle als auch reale Entwicklungen anstoßen kann. In diese Richtung gehen auch meine Bemühungen. Freilich ist es schwierig, mit sehr kurzen Texten und bei geringer Aufmerksamkeitsspanne der Leser komplexe Zusammenhänge zu diskutieren. Deshalb versuche ich, mit pointierten Überschriften und Zitaten die Menschen dazu „zu verführen“, sich umfassender zu informieren, z. B. in Büchern.

VI: Zwei Punkte gelten als Basis Ihrer „realpolitischen“ Tierschutzphilosophie:

„a) Ganz konsequent vegan leben, also ohne jegliche Tierausbeutung, ist unmöglich.
b) Beim Versuch, möglichst konsequent vegan zu leben, gerät man notwendig in paradoxe, ja absurde Situationen.“

Daraus stammt sowohl ein intimes Dilemma („Wie viel Leiden können wir akzeptieren?“) als auch eine politische Aufforderung, deren Kern vegetarisch ist: „Eine vegetarische Politik zum jetzigen Zeitpunkt schafft Vegetarier und (spätere) Veganer“.

Finden Sie diese Analyse immer noch aktuell? Und was ist Ihre Grenze, was den ,Konsequenz vs. Paradox‘-Spagat angeht?

Kaplan: Die vegane Konsequenz ist in der Tat ein Problem – u. a. deshalb: Erstens wird das „Reinheitsbestreben“ ab einem bestimmten Punkt – siehe etwa „Kann Spuren von Milch enthalten“ – kontraproduktiv. Zweitens befinden sich tierliche Substanzen nicht nur in Lebensmitteln, sondern auch in vielen anderen Produkten, etwa in Farben, Medikamenten, Waschmitteln und Bildschirmen. Und drittens gibt es neben dem Verzehr tierlicher Produkte viele andere tierschädliche Praktiken: Eine Welt, in der alle Veganer wären, aber Pelzmäntel trügen und die Labors voller Versuchstiere wären, wäre auch kein Fortschritt!
Wenn man, dies berücksichtigend, eine breitere Perspektive einnnimmt, erkennt man, daß es letztlich nur einen vernünftigen Orientierungspunkt bzw. Konsequenzmaßstab gibt: TIERRECHTE! Die Frage lautet dann schlicht: Welches Verhalten dient der Verwirklichung von Tierrechten? Welches Verhalten dient der Verwirklichung einer Welt, in der Tiere ein ihren Interessen gemäßes Leben führen können? Eine solche Welt wäre dann gewiß eine vegane Welt, aber auch eine Welt, in der viele andere Dinge, die Tiere schädigen, nicht mehr stattfinden.
Wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine notwendige Operation möglicherwesie nicht „vegan“ ist, weil der Chirurg an einem Tier geübt hat, daß ein notwendiges Medikament mit Sicherheit nicht vegan ist, weil es im Tierversuch getestet wurde, und daß der eigene Computer höchstwahrscheinlich auch nicht „vegan“ ist, relativiert sich die Konsequenzfrage rationalerweise. Man erkennt, daß man in einer völlig speziesistischen Welt seine Energie sinnvollerweise nicht primär darauf konzentrieren sollte, persönlich möglichst hundertprozentig antispeziesistisch zu sein, sondern darauf, dazu beizutragen, daß diese Welt weniger speziesistisch bzw. Tierrechts-konformer wird.
Ob ich meine Analyse betreffend primärer VEGETARISMUS-Forderung aufrecht erhalte? Nein. Momentan ist zuviel im Fluß, als daß man gültige Strategieempfehlungen geben könnte. Entscheidend wird zum Beispiel sein, ob sich der gegenwärtige Vegan-Hype letztlich als Modeerscheinung oder als nachhaltige Entwicklung erweisen wird. Eines hat sich allerdings mit Sicherheit nicht geändert: Für die allermeisten Menschen ist selbst der VEGETARISMUS nach wie vor eine völlig exotische Sache. Andererseits ist heute die Chance, junge, gebildete und v. a. weibliche Menschen ohne vegetarischen Zwischenschritt für den Veganismus zu gewinnen ungleich größer als noch vor wenigen Jahren.

VI: Sie leben in Österreich. Wie geht die Politik mit solchen Themen um? Und wie ist die Atmosphäre innerhalb der Gesellschaft?

Kaplan: In diesem Bereich gibt es zwischen Österreich und Deutschland wohl keinen großen Unterschied: Politik und Gesellschaft laufen zuverlässig synchron. Im Hinblick auf mögliche künftige positive Entwicklungen hat sich die Situation in der Bevölkerung allerdings in den letzten Jahren m. E. verschlechtert: Mit zwei selbstbetrügerischen Behauptungen betreibt man gleichzeitig Realitätsverleugnung und Gewissensberuhigung: Man esse weniger Fleisch, das aber „bewußter“. Und: Man esse v. a. Bio-Fleisch. Beides ist nachweislich falsch: Der Pro-Kopf-Fleisch-Verzehr liegt in Deutschland seit 20 Jahren bei etwa 60 Kilogramm. Und der Bio-Fleisch-Anteil liegt unter zwei Prozent.

VI: Was ist, Ihrer Meinung nach, die dringendste Aufgabe eines Tierrechtlers im Jahre 2017? Sollen Philosophie und Vor-Ort-Aktivismus unterschiedliche Agenden haben?

Kaplan: Nein, denn es gibt nur EIN Anti-Fleisch-Argument, das nicht unterlaufen werden kann: das ethische, genauer: das tierethische: Tiere sollen nicht für unsere Geschmackserlebnisse leiden und sterben müssen. Alle anderen Anti-Fleisch-Argumente lassen sich leicht aushebeln: Das ökologische: Dann fahre ich halt mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto zum Metzger – und schon paßt die CO2-Bilanz wieder! Das gesundheitliche: Dann esse ich halt weniger Fleisch, weniger rotes Fleisch oder mehr Fisch! Die Botschaft muß lauten: Es gibt keine ethische Rechtfertigung dafür, Tiere zu quälen und zu töten, damit wir sie essen können!

VI: Kennen Sie das Werk des italienischen Philosophen Leonardo Caffo, den “antispecismo debole” (‘schwachen Antispeziesismus’)? Caffo konzentriert sich auf die Befreiung der Tiere und hält es für unnötig, sogar schädlich angesichts dieses Ziels, breitere politische Implikationen bzw. Vergleiche mit der menschlichen Befreiung gleichzeitig im Visier zu halten. Die Befreiung der Tiere soll als „Zweck an sich“ gelten. Was halten Sie davon?

Kaplan: Da ich Caffos Philosophie nicht kenne, kann ich mich dazu nur generell äußern: Ich sehe nur ein Szenario, Tierrechte zu verwirklichen und den Speziesismus zu überwinden: eine Tierrechtsbewegung als deklarierte und konsequente Fortsetzung der Befreiung der Sklaven und der Emanzipation der Frauen. Oder genereller: die Tierrechtsbewegung als logische Fortsetzung der Menschenrechtsbewegung. Rassismus, Sexismus und Speziesismus müssen gleichermaßen als Verstöße gegen das moralische Gleichheitsptinzip erkannt, verurteilt und überwunden werden. In meinem jüngsten Buch „Tierrechte: Wider den Speziesismus“ habe ich diese philosophische, politische und historische Perspektive noch einmal erläutert.

VI: Eine letzte, leichtere Frage, die wir all unseren Gästen stellen: Was ist Ihr Lieblings-Vegangericht?

Kaplan: Für mich ist das gar keine einfache Frage! Ich kann nicht kochen und will nicht kochen und erhitze mir abends daher einfach ein Stück Tofu oder ein veganes Fertiggericht. Um aber nicht gar so prosaisch zu enden: In einem Lokal, das bis jetzt gar nichts Veganes auf der Karte hatte – und ich mir daher bisher einfach einen Salat und die Beilage Pommes frites bestellte -, gibt es neuerdings gleich mehrere vegane Gerichte. Auf die freue ich mich!