Müssen Behinderte vor Tierrechtlern Angst haben?

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Müssen Behinderte vor Tierrechtlern Angst haben?

Helmut F. Kaplan

Peter Singer hat nicht nur der sogenannten Singer- oder Euthanasie-Debatte ihren Namen gegeben. Er ist auch prominenter Repräsentant der Tierrechtsbewegung. Mehr noch: Singer gilt zu Recht als einer der Gründer der Tierrechtsbewegung. Allerdings wäre es falsch, Peter Singer und die Tierrechtsbewegung, wie es zuweilen geschieht, gleichzusetzen. Die Tierrechtsbewegung ist heute eine eigenständige und international präsente politische Kraft mit soliden philosophischen wie (natur)wissenschaftlichen Grundlagen.

Peter Singer wird im Rahmen der Euthanasie-Debatte bekanntlich unterstellt, daß er sich für die Tötung von behinderten Kindern einsetze – mit Bedacht gewähltes Stichwort mit unzweideutigem historischem Bezug: lebensunwertes Leben. Außerdem wird Singer unterstellt, daß er Neugeborenen generell das Lebensrecht abspreche. Andererseits wird, völlig zu Recht, auf Singers Engagement für Tiere hingewiesen. Mit diesen Ingredienzen wird nun die jeder Grundlage entbehrende Behauptung zusammengemischt, daß sich die Tierrechtsbewegung für eine Verbesserung der Situation der Tiere auf Kosten von Behinderten und Kindern stark mache.

Dieser Vorwurf ist derart absurd und ungeheuerlich, daß ihm auf das Entschiedenste und Vehementeste entgegengetreten werden muß. Hierzu bedarf es keiner langen theoretischen Abhandlungen. Ein Blick auf die philosophischen und historischen Grundlagen der Tierrechtsbewegung genügt, um die Haltlosigkeit dieses Vorwurfs augenscheinlich zu machen: Die Tierrechtsbewegung registriert, aller Rückschläge und realen Unzulänglichkeiten zum Trotz, einen moralischen Fortschritt. Dieser besteht in der langsamen, aber stetigen Ausdehnung der moralischen Sphäre, das heißt in der Erweiterung jenes Bereiches, innerhalb dessen unsere moralischen Regeln und Rücksichten Geltung haben. So haben wir im Laufe der Zeit erkannt, daß andere Stämme, andere Nationen, andere Rassen und das andere Geschlecht in unsere moralische Sphäre aufgenommen werden müssen. Wir haben erkannt, daß Rassismus und Sexismus moralisch willkürliche Diskriminierungen sind, weil Rasse und Geschlecht für sich genommen moralisch unwesentliche Merkmale sind.

Der nächste konsequente Schritt besteht darin zu erkennen, daß nicht nur die Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit moralisch bedeutungslos sind, sondern auch die Artzugehörigkeit: „Die Frage ist nicht: können sie denken? oder: können sie sprechen?, sondern: können sie leiden?“ bemerkte der englische Philosoph Jeremy Bentham bereits vor über 200 Jahren in bezug auf fühlende Lebewesen.

Die Diskriminierung aufgrund der Art oder Spezies, der Speziesismus, ist ebenso willkürlich, falsch und unhaltbar wie die Diskriminierung aufgrund der Rassen- oder Geschlechtszugehörigkeit. Rasse, Geschlecht und Spezies sind gleichermaßen untaugliche moralische Kriterien.

Der Rassist sagt: „Weil du eine schwarze Haut hast, darf ich dich als Sklaven halten.“ Der Sexist sagt: „Weil du eine Frau bist, darfst du nicht zur Wahl gehen.“ Und der Speziesist sagt: „Weil du ein Tier bist, kann ich dich lebenslang in Zoos sperren, mit dir grausame Experimente durchführen und dich umbringen und aufessen.“ Rassismus, Sexismus und Speziesismus befinden sich logisch und ethisch auf der gleichen Ebene. Sie sind Verstöße gegen das grundlegende moralische Gleichheitsprinzip.

Dabei behauptet natürlich kein vernünftiger Mensch, daß Menschen und Tiere in einem faktischen Sinne gleich wären. Natürlich sind Menschen und Tiere verschieden – so wie auch die Menschen untereinander verschieden sind. Menschen und Tiere haben, wie die Menschen untereinander, unterschiedliche Interessen.

Deshalb verlangt auch niemand ernsthaft, daß Menschen und Tiere gleich behandelt werden sollten. Unterschiedliche Interessen erfordern und rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. Tiere brauchen zum Beispiel im Unterschied zu Menschen keine Religionsfreiheit, weil sie keine Religion haben – so wie Männer im Unterschied zu Frauen keinen Schwangerschaftsurlaub brauchen, weil sie nicht schwanger werden können.

Was das moralische Gleichheitsprinzip fordert, ist schlicht dies: Wo und soweit Menschen und Tiere ähnliche Interessen haben, da sollen diese ähnlichen Interessen auch gleich berücksichtigt, moralisch gleich ernstgenommen werden. Zum Beispiel:

Weil alle Menschen ein Interesse an angemessener Nahrung und Unterkunft haben, sollen wir dieses Interesse auch bei allen Menschen gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund der Rassen- oder der Geschlechtszugehörigkeit vornehmen. Und: Weil sowohl Menschen als auch Tiere leidensfähig sind, sollen wir das Interesse, nicht zu leiden, bei Menschen und Tieren gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund der Artzugehörigkeit vornehmen.

Wir brauchen für Tiere keine neue Moral. Wir müssen lediglich aufhören, Tiere willkürlich aus der vorhandenen Moral auszuschließen. Dies wird gewiß ein schwieriger und langwieriger Prozeß werden. Aber das war bei der Befreiung der Sklaven und bei der Emanzipation der Frauen nicht anders. In den USA wurde die Sklaverei erst 1865 abgeschafft. In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht auf Bundesebene erst 1971 eingeführt. Die Befreiung der Tiere hat eben erst begonnen.

Die Tierrechtsbewegung bildet aber nicht nur historisch, sondern in gewisser Weise auch moralisch die Speerspitze der Befreiungsbewegungen. Sie impliziert alle anderen und früheren Befreiungsbewegungen: Sich ihrer Kraft und Legitimität stiftenden geschichtlichen Identität bewußt, sind Tierrechtler automatisch auch Menschenrechtler. Wer sich gegen die Unterdrückung von Tieren engagiert, engagiert sich auch gegen die Unterdrückung von Menschen. Wer den Speziesismus verurteilt, verurteilt auch Rassismus und Sexismus.

Darüber hinaus ist die Tierrechtsbewegung auch gewissermaßen die „reinste“, selbstloseste Befreiungsbewegung, die es bisher gab. Während nämlich etwa die Befreiung der Sklaven und die Emanzipation der Frauen auch aus „vernünftigen“ Gründen erfolgten, ist die Befreiung der Tiere nur moralisch motiviert: Für die Ausbeuter von Sklaven und Frauen war es letztlich vorteilhafter, den Unterdrückten „freiwillig“ Rechte einzuräumen, als zu warten, bis sie mit Gewalt dazu gezwungen würden. Bei der Befreiung der Tiere fehlt diese „egoistische Nachhilfe“. Tiere könnten niemals selbst für ihre Rechte kämpfen, sie könnten uns niemals „anklagen“ oder „bestrafen“. Tiere könnten wir ewig ausbeuten, ohne befürchten zu müssen, daß sie sich je an uns rächen würden. Die Befreiung der Tiere ist ein genuin moralischer Akt des Menschen.

Spätestens hier sollte endgültig und hinreichend klar sein, daß und warum Behinderte und Kinder von Tierrechtlern niemals etwas zu befürchten haben: Die Tierrechtsbewegung ist gleichzeitig eine Menschenrechtsbewegung. Und zwar eine Menschenrechtsbewegung, die garantiert durch keinerlei Vernünftigkeitsüberlegungen „verunreinigt“ ist. Denn, wie gesagt, die Befreiung der Tiere ist in keiner Weise „notwendig“, sie ist „nur“ richtig.

An dieser Stelle soll auch an die banale Tatsache erinnert werden, daß sich Tier- und Menschenliebe in keiner Weise ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig bedingen. Dafür gibt es genügend historische Belege. So hat etwa der Pionier des Tierschutzes Henry Bergh auch die „Society for the Prevention of Cruelty to Children“ gegründet. Und der Begründer des Kinderschutzbundes, Fritz Lejeune, war auch ein bekannter Tierfreund. Das eindrucksvollste Beispiel dafür, daß Menschen- und Tierliebe alles andere als Gegensätze sind, ist wohl Albert Schweitzer, der zu Recht sowohl von Menschenschützern als auch von Tierschützern als Vorbild angesehen wird. Albert Schweitzer war es auch, der erkannte: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ – eine Einsicht, die offensichtlich sowohl in bezug auf Menschen als auch in bezug auf Tiere zutrifft.

Schweitzer ist auch unverdächtig, ein rabiater und fanatischer Tierrechtler gewesen zu sein. Deshalb abschließend ein Zitat von ihm, das all jene beherzigen mögen, für die die Tierrechtsbewegung bisher ein willkommenes Feindbild abgab. Es geht um die moralische und historische Kontinuität der Befreiungsbewegungen:

„Mit rastloser Lebendigkeit arbeitet die Ehrfurcht vor dem Leben an der Gesinnung, in die sie hineingekommen ist, und wirft sie in die Unruhe einer niemals und nirgends aufhörenden Verantwortlichkeit hinein. Wie die sich durch die Wasser wühlende Schraube das Schiff, so treibt die Ehrfurcht vor dem Leben den Menschen an.“ Jetzt ist sie bei den Tieren angelangt.