Müssen Tierrechtler „radikal“ sein?

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Müssen Tierrechtler „radikal“ sein?

Helmut F. Kaplan

In den meist merkwürdig oberflächlichen Berichten über Festnahme, Untersuchungshaft und Freilassung der „zehn österreichischen Tierschützer“ im Sommer 2008 wurden zwei Dinge fast völlig übersehen. Erstens: Für die betreffenden Tierrechtler (es sind keine TierSCHÜTZER) ist vollkommen klar, daß Tiere (moralische) Rechte haben. Zweitens: Die Rechte, die Tieren tatsächlich zugestanden (bzw. de facto gewährt) werden, sind im Vergleich dazu praktisch null.

Tierrechte

Tierrechte werden heute im wesentlichen gemäß den theoretischen Ansätzen der Philosophen Tom Regan und Peter Singer formuliert. Regan steht in der kantischen Tradition und vertritt einen eher technischen Rechtsbegriff: Weil (auch) Tiere einen inhärenten Wert haben, haben sie auch das RECHT, entsprechend diesem inhärenten Wert behandelt zu werden. Das heißt vor allem: Tiere dürfen nicht so behandelt werden, als hinge ihr Wert von ihrer Nützlichkeit für andere ab.

Singer steht in der Tradition Benthams bzw. des Utilitarismus und spricht nur im übertragenen bzw. umgangssprachlichen Sinne von Rechten: Gleiche Interessen, seien es nun menschliche oder tierliche, sollen auch moralisch gleich gewichtet werden. So verdient beispielsweise ein tierliches Interesse, nicht zu leiden, die gleiche moralische Berücksichtigung wie ein gleich starkes menschliche Interesse, nicht zu leiden. Tiere haben wie Menschen einen Anspruch – ein RECHT, wenn man so will -, auf gleiche Interessenberücksichtigung.

Nun gibt es gewiß unterschiedliche Ansichten darüber, welche Rechte (im technischen wie im übertragenen Sinne) welchen Tieren zugesprochen werden sollten. Beispielsweise ist im sogenannten „Great Ape Project“, das von Paola Cavalieri und Peter Singer initiiert wurde, die Rede vom Recht auf Leben, vom Recht auf Schutz der individuellen Freiheit und vom Recht auf Schutz vor Folter. Andere fordern einfach, daß Tiere ein ihren Interessen bzw. Bedürfnissen entsprechendes Leben führen können. Völliges Einvernehmen besteht unter Tierrechtlern aber darüber, daß Tiere das Recht haben, nicht auf so grausame Weise behandelt zu werden, wie es bei Tiertransporten, in Tierfabriken, in Schlachthöfen und in Versuchslabors nachweislich an der Tagesordnung ist.

Daß Tierrechtler die gegenwärtige Situation also als absolut unerträglich empfinden, liegt auf der Hand. Was aber macht man, wenn man gesellschaftliche Zustände (in diesem Fall genauer: Zustände im Rahmen unserer Gesellschaft) als moralisch unannehmbar erachtet? Was machten beispielsweise die Grünen, bevor es sie als politische Partei gab, um auf aus ihrer Sicht unerträgliche Zustände und Vorgänge aufmerksam zu machen? Sie gingen auf die Straße und sie starteten Aktionen.

Hierauf verwies auch der Bundessprecher der österreichischen Grünen, Alexander van der Bellen (heute Bundespräsident), in einer TV-Diskussion anläßlich der Nationalratswahlen 2008. Und nachdem er an die aktionistischen Wurzeln seiner Partei erinnert hatte (Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf sowie Besetzung der Hainburger Au), antwortete er auf den Einwand, daß es hierbei auch zu illegalen Aktionen gekommen sei, sinngemäß: SO kleinlich dürfe man im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen auch wieder nicht sein. Natürlich seien einzelne Aktionen, etwa die Verhinderung genehmigter Schlägerungen in der Au, illegal gewesen.

Aktionistische Vorgriffe

Damit ist ein Verhaltensmuster angesprochen, das bei gesellschaftlichen Umbrüchen generell eine große Rolle spielt: Das Setzen von Handlungen im Sinne der gewünschten Änderungen. Man könnte dies als aktionistische Vorgriffe auf künftiges (bzw. künftig erhofftes) Bewußtsein bezeichnen. Eine Aussage Jürgen Habermas´ in bezug auf Menschenrechte, genauer, in bezug auf die Menschenrechtspolitik, veranschaulicht, worum es geht: Die Menschenrechtspolitik sei vielfach, so Habermas, „angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum bloßen Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will, genötigt.“ (Die Zeit, 18, 1999, S. 7)

Solchen aktionistischen Vorgriffen spielt die mittlerweile längst sprichwörtliche „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) in die Hände: Fakten wohnt eine (rechts)wandelnde Wirkung inne. Ein Musterbeispiel hierfür, das uns dank intensiver Fernsehberichterstattung noch lebhaft in Erinnerung ist, ist das Verhalten der DDR-Bevölkerung vor und beim Mauerfall: Die immer stärkeren Willensbekundungen in Richtung mehr Freiheit führten schließlich genau zu diesem Ziel. Vieles, was Tierrechtlern heute als „radikal“ angekreidet wird – etwa regelmäßiges Demonstrieren vor Geschäften, die Pelz verkaufen, oder illegale Tierbefreiungen -, entspricht exakt diesem Handlungsmuster.

Rechtliche Unsicherheit

Daß hierbei die Akteure erhebliche Risken tragen, liegt auf der Hand, da die moralische – und rechtliche – Legitimierung gesetzlich illegaler Aktionen immer erst nachträglich (im Lichte erfolgter Bewußtseinsänderung) erfolgt bzw. erfolgen kann. Deshalb sind gesellschaftliche Umbruchphasen auch immer durch rechtliche Unsicherheit gekennzeichnet: Vorhandene gesetzliche Bestimmungen hinken neuen moralischen Vorstellungen und Forderungen hinterher. Dazu ein historisches Beispiel:

Im Jahr 1839 segelte vor der kubanischen Küste das Sklavenschiff „La Amistad“, weil die Sklaven an Bord auf Kuba noch etwas „aufgepäppelt“ werden sollten, bevor sie in die USA verkauft werden sollten. Da erlaubte sich der Schiffskoch einen üblen Scherz, indem er den Sklaven eröffnete: „Jetzt werden wir euch alle schlachten.“ Dies führte zu einem Aufstand der Sklaven, in dessen Verlauf diese die Besatzung und den Kapitän töteten.

Die beiden Schiffseigner, die ebenfalls an Bord waren, wurden als Geiseln genommen und gezwungen, das Schiff nach Afrika zu führen. Diese aber tricksten die Sklaven aus und brachten statt dessen das Schiff nordwärts in einen US-Hafen. Dort wurden die Sklaven des Mordes angeklagt und den Rädelsführern drohte die Todesstrafe. Aber Gegner der Sklaverei, darunter der Ex-Präsident John Quincy Adams, erreichten schließlich, daß die Sklaven nicht verurteilt, sondern freigesprochen wurden.

Befreiung der Tiere

Dieser Vergleich mag als weit hergeholt erscheinen. Tatsächlich entspricht er aber exakt dem Denken der Tierrechtler. Erinnern wir uns an das oben angesprochene Gleichheitsprinzip: Faktisch gleiche Interessen sollen auch moralisch gleich gewichtet werden. Dieses Prinzip kann auch historisch bzw. politisch buchstabiert werden: Rassismus (Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe bzw. „Rasse“), Sexismus (Diskriminierung aufgrund des Geschlechts) und „Speziesismus“ (Diskriminierung aufgrund der Spezies) stellen gleichermaßen VERSTÖSSE gegen eben dieses Gleichheitsprinzip dar: Gleiche Interessen von Individuen werden weniger ernstgenommen, weil sie die „falsche“ Hautfarbe oder das „falsche“ Geschlecht haben oder weil sie der „falschen“ Spezies angehören.

Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt sich die Tierrechtsbewegung als nichts anderes dar als die konsequente Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen – eben der Befreiung der Sklaven und der Emanzipation der Frauen. Immer ging bzw. geht es darum, moralische Diskriminierungen aufgrund moralisch belangloser Merkmale – Hautfarbe, Geschlecht, Spezies – zu erkennen und zu überwinden.

Dieser Ansatz erscheint exotisch und ist revolutionär – revolutionär in dem Sinne, daß seine politische Umsetzung immense gesellschaftliche Veränderungen nach sich zöge. Neu ist diese prinzipielle moralische Gleichsetzung von Rassismus, Sexismus und Speziesismus allerdings keineswegs. An den Universitäten in aller Welt wird dieses Konzept in den entsprechenden Disziplinen bzw. Bereichen (Philosophie, Ethik, Recht, Biologie, Bioethik) seit Jahrzehnten diskutiert und gewinnt zusehends an Boden.

Wie die teilweise geradezu groteske Schieflage der Berichterstattung über die „zehn österreichischen Tierschützer“ offenbarte (meist ging es um juristische Details der Polizei- und Gerichstätigkeit, fast nie um die zugrundeliegende politische Problematik), haben diese Gedanken die Universitäten bisher kaum verlassen. Aber die Tierrechtler handeln seit langem auf genau dieser Basis. Anstatt sie mit „Mafia-Paragraphen“ und dergleichen zu bekämpfen, sollte man sich endlich der überfälligen gesellschaftlichen Diskussion stellen.