Was sind Tierrechte?

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Zur notwendigen Weiterentwicklung des Tierrechtsbegriffs

von Helmut F. Kaplan

Voraussetzung für die Verwirklichung von Tierrechten ist, daß man zuerst einmal einen Begriff von Tierrechten hat. Und zwar einen nachvollziehbaren und praktikablen Begriff von Tierrechten. Das ist bis jetzt nicht der Fall. Es gibt lediglich so etwas wie in verschiedene theoretische Kontexte eingebettete Rohfassungen des Tierrechtsbegriffs. In meinem Buch „Tierrechte: Wider den Speziesismus“ erarbeite ich nun einen meines Erachtens nachvollziehbaren und praktikablen basalen Tierrechtsbegriff. Er gründet auf dem von Peter Singer vorgeschlagenen Gleichheitsprinzip:

Kein vernünftiger Mensch behauptet, daß Menschen und Tiere in einem faktischen Sinne gleich wären. Menschen und Tiere haben – wie auch die Menschen untereinander – unterschiedliche Interessen. Deshalb wäre es auch völlig verfehlt, Menschen und Tiere gleich zu behandeln, denn unterschiedliche Interessen rechtfertigen und erfordern eine unterschiedliche Behandlung. So brauchen etwa Hunde und Katzen im Unterschied zu Menschen keine Religionsfreiheit und kein Wahlrecht – weil sie damit nichts anfangen könnten. Und Männer brauchen im Unterschied zu Frauen keinen Schwangerschaftsurlaub – weil sie nicht schwanger werden können.

Was das Gleichheitsprinzip fordert, ist schlicht dies: Wo Menschen und Tiere gleiche bzw. ähnliche Interessen haben, da sollen wir diese gleichen bzw. ähnlichen Interessen auch gleich berücksichtigen:

  • Weil alle Menschen ein Interesse an angemessener Nahrung und Unterkunft haben, sollen wir dieses Interesse auch bei allen Menschen gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund von Rasse oder Geschlecht vornehmen. Also kein Rassismus und Sexismus.
  • Und weil sowohl Menschen als auch Tiere ein immenses Interesse haben, nicht zu leiden, sollen wir dieses Interesse bei Menschen und Tieren auch gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund der Spezies vornehmen. Also kein Speziesismus.

Wir sagten: Gleiche bzw. ähnliche Interessen von Menschen und Tieren sollen gleich berücksichtigt werden. Anders formuliert: Tiere haben das Recht, daß ihre Interessen gleich berücksichtigt werden wie vergleichbare menschliche Interessen. Tierrechte sind dann die Summe der Ansprüche, die sich aus dieser gleichen Berücksichtigung ergeben. Der entscheidende Satz, der diesen Tierrechtsbegriff charakterisiert, lautet also:

Tiere haben das Recht, daß ihre Interessen gleich berücksichtigt werden wie vergleichbare menschliche Interessen.

Das heißt zum Beispiel ganz konkret:

  • Ich schlage ein Kind und ein Pferd jeweils so, daß es dem Kind und dem Pferd den gleichen Schmerz verursacht. (Dafür muß ich natürlich das Pferd entsprechend stärker schlagen.) Wenn ich das verursachte gleiche Schmerzerlebnis dem Kind nicht zumuten würde, darf ich es auch dem Pferd nicht zumuten. Das Pferd hat das Recht, nicht auf diese Weise behandelt zu werden.
  • Ich sperre einen Menschen und ein Tier jeweils auf eine Weise ein, die beiden das gleiche Leiden aufgrund von Enge und Eingesperrtsein verursacht. (Dafür muß ich mich natürlich über die Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse des betroffenen Tieres kundig machen, um ein ähnliches Leidensniveau zu gewährleisten.) Wenn ich das verursachte Leiden aufgrund von Enge dem Menschen nicht zumuten würde, darf ich es auch dem Tier nicht zumuten. Das Tier hat das Recht, nicht auf diese Weise behandelt zu werden.
  • Ich versetzte einen Menschen und ein Tier jeweils in eine Situation, die beiden das gleiche Ausmaß an Angst verursacht. (Dafür muß ich mich natürlich über die Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse des betroffenen Tieres kundig machen, um ein ähnliches Leidensniveau zu gewährleisten.) Wenn ich die verursachte Angst dem Menschen nicht zumuten würde, darf ich sie auch dem Tier nicht zumuten. Das Tier hat das Recht, nicht auf diese Weise behandelt zu werden.

Viele (psychologische) Tierversuche sind im übrigen von vornherein so angelegt, daß eine möglichst große Ähnlichkeit zwischen menschlicher und tierlicher Situation gewährleistet sein soll, weil ihr Zweck gerade darin besteht, anhand der Tiere Methoden oder Medikamente für Menschen zu entwickeln, die bei den betreffenden Problemen, z. B. Ängsten oder Schmerzen, optimal helfen. Man kann sich also schlecht darauf hinausreden, ein Vergleich zwischen Menschen und Tieren sei halt leider kaum möglich, weshalb auch dieses Rechtskonzept bedauerlicherweise an der Praxis scheitere.

Dieses Tierrechtskonzept ist nun mit keinem der problematischen Strukturmerkmale, die sich bei anderen Tierrechtskonzepten finden lassen, behaftet:

1) Mangelnde moralische Vergleichsmöglichkeit aufgrund politischer Ebene: Moralische Positionen sollten auch auf moralischer Ebene formuliert werden, damit man sie mit anderen moralischen Positionen vergleichen kann. Der bei Gary L. Francione zentrale Eigentumsbegriff ist etwa eher im Politischen angesiedelt, wodurch die Vergleichbarkeit mit anderen, „rein philosophischen“ Tierrechtskonzepten erschwert wird.
Mit unserem Tierrechtskonzpt bleiben wir immer auf der moralischen Ebene, so daß die Vergleichsmöglichkeit mit anderen moralischen Tierrechtskonzepten stets gegeben ist.

2) Konfliktlösungsimpotenz aufgrund „moralischer Flatrate“: Wenn man, wie etwa Francione, nur ein moralisch relevantes Merkmal bzw. Kriterium hat, nämlich Empfindungsfähigkeit bzw. Eigentum, stehen einem keine Vorrangregeln bzw. Ansätze zum Konfliktlösen zur Verfügung. Ich möchte dieses methodische Manko als „moralische Flatrate“ bezeichnen. Diese führt in der Praxis ununterbrochen zu ausweglosen Situationen oder absurden Konsequenzen. Negatives Musterbeispiel: Albert Schweitzers Forderung nach „Ehrfurcht vor dem Leben“: Wenn man vor allem Leben (bei Schweitzer inklusive Pflanzen!) die gleiche Ehrfurcht haben soll, weiß man selten, wie man handeln soll – weil man meist zwischen verschiedenen „Lebensverletzungen“ wählen muß.
Bei unserem Tierrechtsbegriff ist sogar quasi das Gegenteil einer Konfliktlösungsimpotenz verwirklicht: eine maximale Konfliktlösungskompetenz: Das Gleichheitsprinzip ermöglicht ein feinstufiges moralisches Handeln exakt gemäß der faktisch involvierten Interessen der Beteiligten, weil die Konfliktlösung quasi nicht nur prinzipiell, sondern individuell, in jedem einzlnen Fall, schon „eingebaut“ ist: durch das Sichtbarwerden der jeweils in Frage stehenden Interessen inklusive deren Ausprägung. Beispiel Fleischessen: Es wird sofort sonnenklar, daß die involvierten tierlichen Interessen (nicht eingesperrt zu sein, nicht in Panik zu sein, nicht grauenvolle Schmerzen zugefügt zu bekommen usw.) auch nicht ansatzweise gleich berücksichtigt werden wie vergleichbare menschliche Interessen.

3) Mangelnde moralische Überzeugungsmöglichkeit aufgrund politischer Ebene: Sue Donaldson und Will Kymlicka legen in ihrem Buch „Zoopolis“ ein ausdrücklich politisches Konzept von Tierrechten vor, in dem für domestizierte Tiere Mitbürgerstatus gefordert wird. Menschen, die von der Notwendigkeit von Tierrechten bereits überzeugt sind, werden den Ausführungen und Forderungen von Donaldson / Kymlicka vermutlich sofort zustimmen. Aber kaum jemand, für den Tierrechte noch „Neuland“ sind. Und das ist, aus Tierrechtsperspektive betrachtet, ein großes Problem, denn der „Witz“ von Tierrechtskonzepten besteht ja darin, Menschen von der Richtigkeit und Notwendigkeit von Tierrechten zu überzeugen. Überzeugungspotential besteht aber, und das ist der springende Punkt, nur auf der moralischen Ebene, bei moralischen Überlegungen – nicht bei deren politischen Schlußfolgerungen.
Ein Beispiel: Auf der moralischen Ebene kann ich etwa so argumentieren: Das Gleichheitsprinzip, daß man Gleiches bzw. Ähnliches auch gleich bzw. ähnlich bewerten und behandeln soll, erkennst du doch an. Gleiche Leistungen sollen gleich belohnt werden, gleiche Vergehen gleich bestraft werden usw. Wenn man nun dieses Gleichheitsprinzip auf unseren Umgang mit Tieren anwendet, erkennt man leicht, daß wir hier meilenweit davon entfernt sind, tierliche Interessen gleich zu berücksichtigen wie vergleichbare menschliche Interessen. Und so weiter. Mit etwas Glück und Geschick mag es mir auf diese Weise gelingen, mein Gegenüber dafür zu sensibilisieren, daß etwa unsere Gewohnheit, Fleisch zu essen, moralisch falsch, weil mit dem Gleichheitsprinzip unvereinbar ist. Völlig chancenlos wäre ich hingegen, wenn ich mit Donaldson / Kymlicka sagte: Du darfst kein Schnitzel mehr essen, weil Schweine unsere neuen Mitbürger sind! Damit werde ich niemanden überzeugen – aus einem einfachen Grund: Bei einer politischen Tierrechtstheorie fehlen die unverzichtbaren moralischen Zwischen- bzw. Überzeugungsschritte.
Bei unserem Tierrechtsbegriff verlassen wir die moralische Ebene überhaupt nie, sodaß dieser mögliche Kritikpunkt von vornherein entfällt.

4) Unnötige Angriffsfläche aufgrund vertragstheoretischer Elemente: Mit ihrem Hinweis, daß es nicht ungebührlich sei, von tierlichen Mitbürgern einen Beitrag (in Form tierlicher Arbeitsleistungen und Produkte) zu verlangen, führen Donaldson / Kymlicka ein vertragstheoretisches Element ein. Nun erweist sich aber die Vertragstheorie, wonach nur Rechte haben kann, wer auch entsprechende Pflichten eingehen und erfüllen kann, schon im menschlichen Bereich als höchst problematisch: Da das wichtigste Motiv, ein solches stillschweigendes bzw. vorgestelltes Vertragsverhältnis zum wechselseitigen Vorteil (nach dem Motto „tust du mir nichts, tu ich dir nichts) einzugehen, der Eigennutz ist, hätten, wie Peter Singer erläutert, beispielsweise seinerzeit die weißen Sklavenhändler keinen Grund gehabt, ihre Opfer besser zu behandeln, als sie es tatsächlich taten, und wir keinen Grund, uns in ökologischen Fragen solidarisch mit unseren Nachkommen zu zeigen, weil weder (die völlig unterlegenen) Sklaven noch künftige Generationen die Möglichkeit hatten bzw. haben, sich für unser Wohlverhalten erkenntlich zu zeigen oder sich wegen unserer Schandtaten an uns zu rächen. Auch kleinen Kindern und geistig Behinderten fehlen offenkundig die Voraussetzungen, um an einer solchen „Ethik der Gegenseitigkeit“ teilzunehmen. Und um Tiere aus der Ethik zu verbannen, waren vertragstheoretische Ansätze seit jeher ein bewährtes Instrument. Es erscheint daher problematisch und kontraproduktiv, ein historisch wie sachlich solchermaßen belastetes Element ausgerechnet in einen Tierrechtsansatz zu integrieren.
Unser auf dem Gleichheitsprinzip beruhendes Tierrechtskonzept enthält keinerlei vertragstheoretischen Elemente.

5) Unnötige Angriffsfläche aufgrund utilitaristischer Elemente: Bei Peter Singers Philosophie springen sofort die diversen Schwierigkeiten, die sein Utilitarismus mit sich bringt, ins Auge: Der Utilitarismus, bei dem es um die Maximierung der Interessen aller Betroffenen geht, verdunkelt das zentrale und äußerst fruchtbare Gleichheitsprinzip. Ja zuweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Singers Utilitarismus sein Gleichheitsprinzip vernichtet. Utilitaristische Erwägungen führen jedenfalls leicht zu speziesistischen (oder gar absurden) Konsequenzen. So ist es zum Beispiel durchaus möglich, daß die Summe des Vergnügens, das Tausende von Zuschauern eines Stierkampfes haben, größer ist als das Leiden eines einzigen Stieres. Auch könnte die Summe des Vergnügens, das viele Besucher eines Bierzeltes beim Verzehr eines Ochsen am Spieß haben, größer sein als das Leid, das diesem Tier hierfür zugefügt worden ist. (Diese Absurdität des Utilitarismus verdeutlicht Vittorio Hösle durch den Hinweis, daß auch die Schlachtung eines Kindes moralisch geboten sein könnte, wenn sich nur genügend Personen an dessen Fleisch erfreuten.) Singers Utilitarismus zieht, v. a. in der Diskussion um Tierversuche (Tierrechts-intern Singers größte „Baustelle“) und Euthanasie, eine Spur der Verwüstung nach sich.
Unser Gleichheits-basierter Tierrechtsbegriff ist vollkommen „Utilitarismus-bereinigt“.

6) Mangelnde moralische Überzeugungsmöglichkeit aufgrund komplizierter Theorie: Tom Regans Ansatz ist wesentlich „philosophischer“ und abstrakter als der Singers. Dies hängt vielleicht auch damit zusammen, daß bei ihm Themen, Gesichtspunkte und Probleme zur Sprache kommen, die für die gesamte Tierrechtsphilosophie relevant sind und neue, interessante Perspektiven eröffnen. Dies gilt insbesondere für den Todesaspekt. Dennoch muß aufgrund der Kompliziertheit von Regans Theorie vermutlich gesagt werden, daß für sie tendenziell das gleiche gilt, was wir an Donaldson / Kymlicka schon kritisiert hatten: Menschen, die von der Notwendigkeit von Tierrechten bereits überzeugt sind, werden den Ausführungen und Forderungen vermutlich sofort zustimmen. Aber kaum jemand, für den Tierrechte noch „Neuland“ sind.
Der Vorwurf der Kompliziertheit geht bei unserem Tierrechtskonzept augenscheinlich ins Leere: Die „Theorie“ bzw. der „Theoriekern“ besteht praktisch aus der denkbar einfachen Forderung: Gleiches bzw. Ähnliches soll auch gleich bzw. ähnlich bewertet und behandelt werden.

7) Mangelnde moralische Überzeugungsmöglichkeit aufgrund metaphysischer Elemente: Tom Regan wird häufig vorgeworfen, daß sein zentraler Begriff des inhärenten Wertes im Grunde metaphysischer Natur sei bzw. in diese Richtung tendiere und daher nur schwer vermittelbar wäre. Wenngleich der Begriff durchaus auch sachlich erläutert werden kann (im Sinne von: unabhängig vom Wert eigener und fremder Erlebnisse), stellt die „Wolkigkeit“ des „inhärenten Wertes“ doch ein gewisses Rezeptionsproblem dar.
Unsere Forderung, Gleiches bzw. Ähnliches auch gleich bzw. ähnlich zu bewerten und zu behandeln, ist als allgemein akzeptiertes Prinzip in gewisser Weise geradezu das Gegenteil von „metaphysisch“.

Der größte Vorteil unseres Tierrechtskonzepts ist aber vielleicht dies: Bei allen anderen Konzepten stellt sich an der Schwelle zum moralischen Handeln die Frage: Aber was bedeutet diese Theorie nun konkret? Bei Singer beginnt etwa jetzt, nimmt man seinen Utilitarismus ernst, das große Rechnen: Welche positiven und negativen Folgen hat zum Beispiel das Fleischessen für alle Betroffenen? Bei Regan stellt sich vielleicht angesichts eines Huhnes die Frage, ob das denn überhaupt einen inhärenten Wert habe. Und bei Flatrate-Konzepten wie Franciones Ansatz sind, wie wir gesehen haben, Praxisprobleme sowieso vorprogrammiert. Am konkretesten sagen uns vermutlich noch Donaldson und Kymlicka, wie wir handeln sollen – allerdings um den Preis, daß ihr Konzept von vornherein „kaum verkäuflich“ erscheint. Unsere Forderung, tierliche Interessen gleich zu berücksichtigen wie vergleichbare menschliche Interessen, erweist hingegen Fleischessen, Pelztragen, Tierversuche usw. praktisch augenblicklich als moralisch grundfalsch.

Helmut F. Kaplan: Tierrechte: Wider den Speziesismus. 2016