Wie radikal muß die Tierrechtsbewegung sein?
Helmut F. Kaplan
Vergessen wir nicht, daß die Tiere ihr schreckliches Schicksal vor nicht langer Zeit mit anderen Rechtlosen teilten, „daß der Platz ‚extra muros‘, außerhalb des Bereiches der konventionellen Ethik, den heute nur noch die Tiere einnehmen, gestern … mit … Sklaven, Leibeigenen, Ungläubigen, Indianern, Negern und Angehörigen anderer als ‚untermenschlich‘ gestempelten Menschengruppen geteilt wurde, die alle ‚wie Tiere‘ behandelt und demnach gejagt, gequält und getötet wurden.“ (Godofredo Stutzin)
Die Tiere sind als letzte Rechtlose übriggeblieben. In folgendem historischen Detail kommt dies anschaulich zum Ausdruck: 1865 wurde in Amerika jedem freigelassenen Sklaven neben einem Stück Land auch ein Maulesel zugesagt. (Eine Frage der Ehre, Profil, 32, 2001) Die ehemaligen Sklaven sollten nun also ihrerseits einen Sklaven, nämlich ein Tier, erhalten. Damit endete die „Befreiungskette“ vorerst. Die Tiere befinden sich noch immer in Gefangenschaft, sie sind noch immer Sklaven, die letzten „legalen“ Sklaven auf der Welt.
Aus der einstigen Gemeinsamkeit von Tieren und anderen Unterdrückten gilt es, für heute Lehren zu ziehen: An den bereits erfolgten und erfolgreichen Befreiungsbewegungen, etwa der Sklaven, der Schwarzen oder der Frauen, können wir studieren, wie solche Prozesse ablaufen. Diese Bewegungen können uns als Orientierung für die Befreiung der Tiere dienen.
Wohlgemerkt: Es geht hier schlicht darum festzustellen, wie frühere Befreiungsbewegungen erfolgt sind – um daraus Schlüsse für die Befreiung der Tiere zu ziehen. Dieser Punkt ist wichtig, wird doch der Tierrechtsbewegung immer wieder vorgworfen, zu „extrem“, zu „radikal“ usw. zu sein. Aufzuzeigen, wie historische Ereignisse faktisch verliefen, kann aber legitimerweise nicht kritisiert werden.
Und wenn man sich diese Prozesse ansieht, erkennt man: Hier handelt es sich durchgängig um ganzheitliche Phänomene dergestalt, daß sie auf allen Ebenen in allen Abstufungen abliefen: auf der persönlichen, gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ebene, von „gemäßigten“ bis zu „radikalen“ Positionen.
Den Kampf um die Befreiung der Tiere auf einen Ausschnitt aus diesem Gesamtwirkspektrum beschränken zu wollen, wäre nicht nur naiv und unrealistisch, sondern vor allem auch unverantwortlich.
Exakt dies, eine eingeschränkte und einseitige Vorgangsweise, wird aber ununterbrochen von allen Seiten – nicht nur von den Tierausbeutern, sondern auch von den „Tierschützern“ – gefordert: Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Verein einem anderen vorwirft, zu „emotional“, zu „rational“, zu „gemäßigt“ oder zu „radikal“ zu sein. Damit muß Schluß sein. Die Befreiung der Tiere bedarf aller Wirkkräfte. Nur eine ganzheitliche Bewegung, die alle Aspekte und alle Facetten eines historischen Umbruchs beinhaltet, kann die Tiere aus ihrer unverschuldeten jahrtausendelangen Knechtschaft befreien.