„Für einen kurzen Gaumenkitzel verursachen wir wehrlosen Wesen lebenslanges Leiden und qualvolles Sterben“ (Interview)
Das folgende Interview mit dem Hamburger Journalisten Volker Stahl aus dem Jahre 1996 zeigt, etwa beim Thema Veganismus, daß sich seit damals doch einiges geändert hat. Nichts geändert hat sich freilich an den „Säulen“ der Tierrechtsphilosophie – und daran, daß sie bis heute in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielen. Allerdings ist der damalige größere Tierrechts-interne Optimismus im Hinblick auf die Durchsetzung von Tierrechten deutlich spürbar.
Frage: Herr Kaplan, die Hamburger Staatsanwaltschaft hat nach einem Interview, das Sie dem „stern“ gegeben haben, wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ gegen Sie ermittelt. Was ist aus dem Verfahren geworden?
HFK: Wie mir ein Kollege von Ihnen mitteilte, wurde es eingestellt, wenngleich ich haarscharf an einer Anklage vorbeigeschrammt sein soll.
Frage: Wie radikal darf Tierschutz sein?
HFK: Genauso radikal wie Menschenschutz.
Frage: Heißt das: Gewalt gegen Sachen ist unter Umständen in Ordnung?
HFK: Die Tierrechtsbewegung ist kein homogenes Gebilde. Ich kann nur für „Animal Peace“, deren Berater und Sprecher für ethische Grundfragen ich bin, sprechen: Wir lehnen Gewalt ab, und wir leisten Hilfe, wenn sich jemand in Gefahr befindet.
Frage: Und mit diesem „jemand“ sind auch Tiere gemeint?
HFK: Selbstverständlich. Denn hier geht es um die Verhinderung und Verminderung von Leiden, und in bezug auf Leiden gibt es zwischen Menschen und Tieren keinen prinzipiellen Unterschied. Kein Wesen will leiden. Deshalb ist Franz von Assisis Forderung „Ein jedes Wesen in Bedrängnis hat gleiche Rechte auf Schutz“ nicht nur moralisch plausibel, sondern auch faktisch begründet.
Frage: Was ist der Unterschied zwischen Tierschützern und Tierrechtlern?
HFK: Sowenig Frauen für Männer oder Schwarze für Weiße geschaffen wurden, sowenig wurden Tiere für den Menschen geschaffen. Tiere sind eigenständige Wesen mit einem Recht auf eigenständiges Leben. Deshalb fordern Tierrechtler die Beendigung der Ausbeutung von Tieren. Tierschützer begnügen sich hingegen mit „Humanisierungen“ der Ausbeutung. Aber eine „Humanisierung“ beispielsweise der Schlachtung ist natürlich genauso absurd wie eine „Humanisierung“ der Sklaverei oder die Zulassung „sanfter“ Vergewaltigung!
Frage: Mensch – Tier. Gibt es Grenzen der Gleichheit?
HFK: Das moralische Gleichheitsprinzip behauptet keine faktische Gleichheit, sondern fordert gleiche Berücksichtigung ähnlicher Interessen. Zum Beispiel: Weil alle Menschen ein Interesse an angemessener Nahrung und Unterkunft haben, soll dieses Interesse auch bei allen Menschen gleich ernst genommen werden – ohne Diskriminierung aufgrund der Rassen- oder Geschlechtszugehörigkeit. Und: Weil sowohl Menschen als auch Tiere ein immenses Interesse, nicht zu leiden, haben, soll dieses Interesse auch bei Menschen und Tieren gleich ernst genommen werden – ohne Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit.
Frage: Heißt das, daß Menschen und Tiere gleich behandelt werden sollen?
HFK: Überhaupt nicht, denn unterschiedliche Interessen erfordern und rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. So fordert zum Beispiel niemand Religionsfreiheit für Hunde – weil Hunde im Unterschied zu Menschen keine Religion haben. Genauso unsinnig wäre es, Schwangerschaftsurlaub für Männer zu fordern – weil Männer im Unterschied zu Frauen nicht schwanger werden können.
Frage: Mit Ihren provozierenden Thesen und mit der Visitenkarte des Philosophen in der Tasche sind Sie in den letzten Jahren zum Guru der Tierrechtsszene avanciert. Wer sind eigentlich Ihre Lehrer?
HFK: Die Tierrechtsbewegung ist vor etwa zwei Jahrzehnten im angelsächsischen Raum entstanden. Zu ihren Pionieren zählen unter anderen die Philosophen Peter Singer und Tom Regan. Inzwischen ist die Tierrechtsphilosophie allerderdings längst zu einer eigenständigen Disziplin geworden.
Frage: Was ist Ihr vorrangiges Anliegen?
HFK: Zunächst ging es mir einmal darum, die Ideen der Tierrechtsbewegung auch für den deutschsprachigen Raum zu erschließen. Bei meinen Vorträgen, Aufsätzen und Büchern lege ich größten Wert auf Allgemeinverständlichkeit. Theorien, die niemand versteht, nützen niemandem und verschwenden nur Zeit, Energie und Papier. Momentan arbeite ich an einer umfassenden, aber einfachen Darstellung der Tierrechtsphilosophie.
Frage: Die Lieblingswaffe des Philosophen ist das Argument. Mit welchem versuchen Sie, überzeugte Fleischfresser von ihrem Tun abzubringen?
HFK: Zum Beispiel mit der Frage: „Würden Sie auch ihre Katze umbringen und aufessen? Warum nicht?“ Oder mit dem Hinweis auf das himmelschreiende Interessenungleichgewicht, das hier vorliegt: Für einen kurzen Gaumenkitzel verursachen wir wehrlosen Wesen lebenslanges Leiden und qualvolles Sterben.
Frage: Woher wollen Sie wissen, daß der Salat keinen Schmerz empfindet?
HFK: Erstens sprechen alle Fakten gegen die Leidensfähigkeit von Pflanzen, zum Beispiel das Fehlen eines zentralen Nervensystems zur Weiterleitung von Schmerz. Zweitens wären Pflanzen, sollten sie wider jede Erwartung dennoch leidensfähig sein, höchstwahrscheinlich weniger schmerzempfindlich als Tiere, sodaß wir dennoch vegetarisch leben müßten, wenn wir das geringere Übel wählen wollten. Diese Konsequenz gilt drittens sogar unter der absurden Annahme, daß Pflanzen gleich schmerzempfindlich wie Tiere sind: Fleischesser verbrauchen de facto zehnmal so viele Pflanzen wie Vegetarier, weil beim „Umweg“ über die Fleisch liefernden Tiere 90 Prozent der Nahrungsressourcen verlorengehen. Anders ausgedrückt: Ein Vegetarier, der selber Pflanzen ißt, anstatt sie Tieren zu verfüttern, um dann deren Fleisch zu essen, verbraucht nur zehn Prozent der Planzen, die ein Fleischesser verbraucht!
Frage: Was sind Veganer?
HFK: Veganer lehnen nicht nur Fleisch, sondern auch Milch, Milchprodukte, Eier und Leder ab.
Frage: Veganer werden von Linken wie Jutta Ditfurth in die rechte Ecke gestellt. Ist was dran an dieser Einschätzung?
HFK: Ich wüßte nicht was. Den Rechten geht es darum, unsere moralische Sphäre durch Ausschluß von bestimmten Gruppen, zum Beispiel von Ausländern, zu verkleinern. Veganer verfolgen hingegen exakt das entgegengesetzte Ziel: unsere moralische Sphäre weiter auszudehnen, nicht nur auf alle Menschen, sondern auf alle leidensfähigen Lebewesen.
Frage: Ziemlich extrem und unrealistisch, oder?
HFK: Weder noch. Zur veganen Position gelangt man unweigerlich, wenn man den ethisch begründeten Vegetarismus konsequent zu Ende denkt. Allerdings lehne ich die moralische Verurteilung von Vegetariern durch Veganer ab. Denn damit schafft man keine Veganer, verhindert aber Vegetarier.
Frage: Um mal einen klassischen Einwand zu bemühen: Sollte man sich nicht zuerst für die Rechte von Minderheiten oder der Kinder einsetzen, bevor man für die Interessen der Tiere eintritt?
HFK: Die Forderung „Die Menschen kommen zuerst!“ dient jenen als Vorwand, die weder für Tiere noch für Menschen etwas tun wollen. Wer sich wirklich um Menschen kümmert, dem sind auch die Tiere ein Anliegen. Und wer sich wirklich um Tiere kümmert, dem sind auch die Menschen ein Anliegen. Ethik ist unteilbar.
Frage: Haben Sie es eigentlich geschafft, Ihre eigenen Kinder zu Vegetarieren zu erziehen?
HFK: Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Niemand schafft es, Kinder, denen die Fakten im Zusammenhang mit dem Fleischessen nicht durch Märchen und Lügen systematisch vorenthalten werden, zum Fleischessen zu bewegen.
Frage: Sie sagen: Rassismus, Sexismus und Speziesismus sind Verstöße gegen das Gleichheitsprinzip. Sind also Tiere die Sklaven der Moderne?
HFK: Ja. Und so wie wir in der Vergangenheit erkannt haben, daß Hautfarbe und Geschlechtszugehörigkeit moralisch irrelevante Merkmale sind, so erkennen jetzt immer mehr Menschen, daß auch die Artzugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmen biologischen Spezies, moralisch bedeutungslos ist. Die Diskriminierung aufgrund der Spezies, der Speziesismus, ist moralisch ebenso willkürlich wie die Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht.
Frage: Manchmal hat es den Anschein, daß Sie bei Ihrem Einsatz für die Tiere von allen guten Geistern verlassen sind. In Ihrem Buch „Leichenschmaus“ sprechen sie Ihren menschlichen Artgenossen das Lebensrecht ab, wenn sie auf Kosten der Tiere nur genießen, ohne zu helfen. Meinen Sie das ernst?
HFK: Der Schlüsselsatz lautet: „Wer genießt, ohne zu helfen, macht sich schuldig und verdient nicht zu leben.“ Dieser Satz ist absolut ernst gemeint und bezieht sich sowohl auf tierliches wie auf menschliches Leid: Wer das ungeheure Glück hat, vom endlosen Leiden auf Erden einigermaßen verschont zu werden, und dies nicht als Verpflichtung begreift, denen zu helfen, die nicht dieses unverschämte und unverdiente Glück hatten, der hat jegliches moralisches Recht auf Glück und Leben verwirkt. Mich schockiert offengestanden der Wirbel, den diese Passage immer wieder auslöst. Ist denn die Forderung, daß diejenigen, denen es gut geht, denen helfen sollten, denen es weniger gut geht, wirklich so skandalös?
Frage: Welche Bedeutung hat der umstrittene australische Philosoph Peter Singer für die Tierrechtsbewegung?
HFK: Historisch gesehen eine überhaupt nicht zu überschätzende. Sein 1975 erschienenes Buch „Animal Liberation“ war die Initialzündung für die Tierrechtsbewegung.
Frage: Aber problematisch ist doch seine an Tabus kratzende These, schwerstbehinderte Neugeborene unter Umständen zu töten, um ihnen selbst und den Eltern weiteres Leid zu ersparen.
HFK: Die Euthanasie-Debatte bzw. ihr Gegenstand ist ein medizinisch wie ethisch höchst komplexer Problembereich. Es wäre absurd, im Rahmen dieses Interviews quasi nebenbei gültige inhaltliche Bewertungen vornehmen zu wollen. Nur soviel: Man sollte endlich zur Kenntnis nehmen, was die Ursache der ganzen Enthanasie-Debatte war: vorhandene übliche, aber unhaltbare Praktiken im Umgang mit Behinderten! Vor allem das sogenannte „Liegenlassen“: Schwerstbehinderte Neugeborene, bei denen keine Aussicht auf Besserung bestand und deren ganzes Leben aller Voraussicht nach ausschließlich aus unerträglichem Leiden bestehen würde, wurden einfach „liegengelassen“ bis sie langsam und oft sehr qualvoll zugrundegingen. Dieses „natürliche“ Sterben, sprich: Verhungern- und Verdurstenlassen, dauerte oft tage- und wochenlang. Hier setzte die Forderung Singers an: Wenn man sich aus humanitären Gründen entschließt, ein schwerstbehindertes Kind sterben zu lassen, dann sollte das Sterben nicht langsam und qualvoll, sondern rasch und schmerzfrei erfolgen.
Frage: Dennoch: Viele Menschen weisen Singers Thesen als „unmenschlich“ zurück und sagen: „Ja, ja, die Tiere will er retten und die Menschen umbringen.“
HFK: Unsinn: Der Tierrechtsbewegung geht es nicht um die Senkung des moralischen Status der Menschen, sondern um die Hebung des moralischen Status der Tiere.
Frage: Dennoch schadet Singer mit seinen Thesen der Tierrechtsbewegung.
HFK: Schaden richten diejenigen an – und zwar für Tiere und Menschen! -, die demonstrieren und protestieren, ohne sich vorher über die Fakten und Zusammenhänge zu informieren.
Frage: Ist der Utilitarismus ein geeignetes philosophisches Instrument für die Durchsetzung von Tierrechten?
HFK: Das „Schöne“, wenn Sie so wollen, ist: Das Unrecht, das wir Tieren antun, ist so maß- und hirnlos, daß es keiner besonders feinen Instrumente bedarf, um dies sichtbar zu machen. Nehmen Sie nur das Fleischessen: Es erweist sich als unverantwortlicher Wahnsinn, egal ob Sie es unter dem Aspekt Welthunger, Umweltzerstörung, Krankheit oder Tierleid betrachten.
Frage: Müssen sich die Philosophen des Themas Tier annehmen, weil die Kreatur vor allem in der christlich-jüdischen Tradition kaum eine Rolle spielt?
HFK: Ja, das ist bestimmt ein wesentlicher ursächlicher Faktor. Andererseits ist aber der menschliche Egoismus und Artegoismus auch ein universelles Phänomen, das der Erhellung und Überwindung durch philosophische Aufklärung bedarf.
Frage: Werden Menschen die Tiere noch in 100 Jahren quälen und töten?
HFK: Die Tierrechtsbewegung ist die logische Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen, wie etwa der Befreiung der Sklaven oder der Emanzipation der Frauen: Stets geht es um die Überwindung moralischer Diskriminierungen aufgrund moralisch irrelevanter Merkmale. So wie wir eingesehen haben, daß Hautfarbe und Geschlechtszugehörigkeit moralisch bedeutungslos sind, so müssen wir auch zugeben, daß die Artzugehörigkeit moralisch bedeutungslos ist: Warum soll man jemanden quälen dürfen, weil er zu einer anderen Art gehört! Dieser Erkenntnis verschließen kann sich nur, wer nicht denken kann oder nicht moralisch sein will. Deshalb sagt die Zukunft der Tierrechtsbewegung auch viel über uns selbst aus. Ihr Scheitern wäre nicht nur ein Schaden für die Tiere, sondern auch eine Bankrotterklärung für den Menschen.