Menschenrechte für Tiere

Veröffentlicht in: Unkategorisiert | 0

Menschenrechte für Tiere

Helmut F. Kaplan

Schon Arthur Schopenhauer entrüstete sich: „Die vermeintliche Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, ist geradezu eine empörende Roheit und Barbarei des Okzidents.“ Christian Morgenstern vermutete: „Weh dem Menschen, wenn nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt.“ Und Albert Einstein sah die Aufgabe der Menschen darin, „uns selbst zu befreien, indem wir die Sphäre des Mitleids auf alle Lebewesen ausdehnen“. Paula Cavalieri und Peter Singer fordern nun im gleichnamigen von ihnen herausgegebenen Sammelband „Menschenrechte für die Großen Menschenaffen“.

So irreal und irrational die Forderung nach Menschenrechten für Menschenaffen auch klingen mag – dieses sogenannte „Great Ape Projekt“ ist wohlüberlegt und wohlbegründet. Zahlreiche renommierte Wissenschaftler aus aller Welt setzen sich unter anderem aus philosophischer, psychologischer, biologischer und juristischer Sicht mit unserem Umgang mit Menschenaffen (Schimpansen, Goriallas und Orang-Utans) auseinander und kommen zum Schluß, daß wir diesen Tieren konsequenterweise folgende Rechte zugestehen müßten: das Recht auf Leben, das Recht auf Schutz der individuellen Freiheit und das Recht auf Schutz vor Folter.

Diese Forderungen werden in einer „Deklaration über die Großen Menschenaffen“ (damit sind Menschen und Menschenaffen gemeint) am Anfang des Buches aufgestellt. Der Band stellt ein politisches Manifest dar, dessen Ziel ebenso eindeutig wie ehrgeizig ist: Die für die Menschenaffen reklamierten Rechte sollen keineswegs nur im unverbindlichen Rahmen philosophischer und wissenschaftlicher Diskussion erhoben, sondern vielmehr praktisch durchgesetzt und in der Charta der Vereinten Nationen verankert werden. Zur Wahrung der Rechte der befreiten Menschenaffen sollen – je nachdem, ob sie unter natürlichen oder unter zivilisatorischen Bedingungen leben – Einrichtungen geschaffen werden, die sich an bereits bestehenden Institutionen orientieren könnten. Dabei denken die Herausgeber etwa an UN-Treuhandgebiete oder Organisationen mit „Obhut“-Charakter wie zum Beispiel Amnesty International.

Gleich mehrere Autoren betonen, daß die übliche wissenschaftliche Systematik weniger die Fakten der Biologie widerspiegelt als vielmehr die Irrationalität und Hybris des Menschen. Richard Dawkins weist auf die Künstlichkeit der konventionellen Kategorie Menschenaffe hin: „Es gibt keine natürliche Kategorie, zu der Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans gehören, nicht aber der Mensch.“ Auch für Jared Diamond ist die traditionelle Unterscheidung von Menschen und Menschenaffen schlicht eine „Verzerrung der Tatsachen“. Er veranschaulicht dies mit dem Hinweis, daß, sollten je außerirdische Systematiker auf die Erde kommen, um ein Verzeichnis ihrer Bewohner anzulegen, sie ganz bestimmt Menschen und Schimpansen der gleichen Gattung zuordnen würden.

Noch „sensationeller“ und schlagender (weil intuitiv nachvollziehbar) als die biologische Ähnlichkeit ist aber die „geistige“, psychologische Ähnlichkeit zwischen Menschen und Menschenaffen. Unter anderem Roger und Deborah Fouts, H. Lyn White Miles und Jane Goodall berichten von geradezu phantastisch anmutenden Fähigkeiten von Menschenaffen:

Sie können die amerikanische Taubstummensprache erlernen und über ein aktives Vokabular von etwa tausend Wörtern verfügen. Mit dieser Zeichensprache können sich Menschenaffen sowohl untereinander als auch mit Menschen verständigen. Sie können gedruckte Wörter, unter anderem ihren eigenen Namen, lesen. Menschenaffen sind in der Lage, gesprochenes Englisch zu verstehen und ein passives Vokabular von mehreren Tausend Wörtern zu beherrschen. Sie können auf Englisch gestellte Fragen in der Zeichensprache antworten und äußern sich über ihre Gefühle, wobei sie Worte wie „glücklich“, „traurig“, „furchtsam“, „freuen“, „begierig“, „enttäuschen“, „böse“ und „Liebe“ verwenden.

Menschenaffen verfügen über ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, zeigen Humor, erfinden und spielen Spiele, lügen, täuschen. Sie können abstrakt denken, haben eine bildliche Vorstellung, sind kreativ, malen Bilder. Sie sind in der Lage, komplexe Probleme planmäßig und unter Zuhilfenahme verschiedenster Werkzeuge zu lösen.

Diese Tiere zeigen fürsorgliches und altruistisches Verhalten, weinen bei Verletzungen oder wenn sie alleine gelassen werden, trauern um Verstorbene und sprechen über den Tod. Und: Sie sind (was schon die vorangehenden Ausführungen belegen und was unter anderem die Verwendung von Personalpronomen und das Selbererkennen im Spiegel vollends außer Zweifel stellen) selbstbewußte Lebewesen.

Intelligenz und Sensibilität der Menschenaffen stehen in einem haarsträubenden und erschütternden Widerspruch zur Art, wie wir mit ihnen umgehen. Geza Teleki vergleicht den modernen Schimpansenhandel mit dem historischen Sklavenhandel. Für einen Schimpansensäugling, der mehr als ein Jahr an seinem Bestimmungsort in Übersee überlebt, müssen mindesten zehn andere Schimpansen sterben:

„Das Gemetzel beginnt in der Wildnis, wo Jäger die Mütter der Schimpansenbabies und andere Mitglieder der Gruppe, die sie beschützen wollen, mit Schrotflinten oder Steinschloßgewehren, die mit kleinen Steinen oder Metallsplittern geladen sind, überfallen. Viele Säuglinge sterben, wenn diese grobe Munition streut und nicht nur die Mütter, sondern auch die Kinder trifft, die sich an ihnen festklammern. Um die erwachsenen Schimpansen zu töten, die die Jungen verteidigen, werden auch Fallgruben, vergiftetes Futter, Drahtschlingen, Netze und sogar Meutehunde eingesetzt. Noch mehr Tote gibt es während des Transports zum nächsten Dorf. Oft werden die Säuglinge mit Draht an Händen und Füßen gefesselt …. Lastwagen bringen sie in die Städte, in winzigen Käfigen oder fest zugebundenen Säcken …. Nur wenige werden unterwegs versorgt, daher sind Verhungern und Verdursten Alltäglichkeiten. Während sie auf den Weitertransport nach Übersee warten, sterben wieder einige durch die Unterversorgung in den schmutzigen Verschlägen und auf Flughäfen, wo es durch Flugverspätungen zu Erfrierungen kommt. In winzige Käfige gestopft …, müssen die Opfer oft tagelang reisen …. Einigen Säuglingen gelingt es, trotz der schlechten Chancen, alle diese Strapazen zu überleben, nur um dann am Bestimmungsort am Zusammenwirken des physischen und psychischen Traumas zu sterben.“

Doch diese Tiere haben im Vergleich zu den Überlebenden noch Glück gehabt. Denn am Bestimmungsort beginnt das ärgste Elend erst. Die Tiere kommen in Zoos, Zirkusse oder Tierschauen, um hier lebenslang unter erbärmlichen Umständen dahinzuvegetieren, bis sie schließlich buchstäblich verrückt werden. Oder sie werden, sobald sie nicht mehr jung und attraktiv sind, an Versuchslabors weiterverkauft. Oder sie kommen direkt, ohne Umweg über Zoo, Zirkus oder Tierschau in Versuchslabors.

Hier werden sie, wie David Cantor von PETA berichtet, unter anderem mit Grippe, Hepatitis, Krebs und Aids infiziert. Sie leben in winzigen, verdreckten Käfigen, ohne jegliche Ablenkungs- oder Spielmöglichkeit und ohne jeden Kontakt zu anderen Tieren. In solche Isolierkäfige sind diese hochintelligenten, sensiblen und sozialen Tiere unter Umständen 50 Jahre eingesperrt! Sie verlassen ihr Gefängnis nur zur Durchführung von Versuchen – und als Tote.

Daß ein solcher Umgang mit unseren nächsten Verwandten moralisch nicht in Ordnung sein kann, leuchtet jedem intuitiv ein. Doch damit wollen es die Autoren des Buches nicht bewenden lassen. Sie erheben den Anspruch, rational nachvollziehbare Argumente zu liefern. James Rachels erinnert an das zuerst von Aristoteles formulierte fundamentale moralische Prinzip, daß gleiche Fälle auch gleich behandelt werden müssen. Darwin hat uns gelehrt, daß Tiere im allgemeinen und Menschenaffen im besonderen uns in vielerlei Hinsicht gleichen. „Jeder gebildete Mensch“, so Rachels, „hat heute Darwins Lektion über den Ursprung des menschlichen Lebens und seine Verbindung zu nichtmenschlichem Leben gelernt. Unsere Sache ist es jetzt, die daraus folgenden moralischen Konsequenzen ebenso ernst zu nehmen.“

Auf einen anderen Gesichtspunkt, der uns im Hinblick auf unseren Umgang mit Tieren zu denken geben sollte, weist Colin McGinn hin: Wir haben schlicht Glück gehabt, als Menschen und nicht als Tiere geboren worden zu sein. Unsere privilegierte Stellung beruht nicht auf Verdienst, sondern auf Zufall. Wir hätten genausogut als Menschenaffen, mit denen grausame Experimente gemacht werden, auf die Welt kommen können. Möglicherweise ereilt uns ein ähnliches Schicksal auch noch. Vielleicht werden wir eines Tages von uns intellektuell überlegenen Außerirdischen heimgesucht, die sich uns gegenüber so verhalten, wie wir uns gegenüber Tieren verhalten. Aus diesem Bewußtsein des (Bis-jetzt-)Glücklich-davongekommen-Seins sollten wir die moralische Konsequenz ziehen, diejenigen, die nicht solch unverschämtes Glück hatten, nicht allzu anders zu behandeln, als wir an ihrer Stelle behandelt werden möchten.

Welch grauenhaftem Schicksal wir möglicherweise dadurch entgangen sind, daß wir zufälligerweise als Menschen geboren wurden, verdeutlicht ein Vorfall, von dem Bernard E. Rollin berichtet: Ein Tierpfleger in einem Versuchslabor hatte sich intensiv mit der Aufzucht eines Schimpansenbabys beschäftigt, an dem später Experimente durchgeführt werden sollten. Es entwickelte sich eine persönliche Beziehung zwischen Pfleger und Schimpanse. Schließlich wurde das Tier in ein anderes Laboratorium gebracht. Der Pfleger vermied es bewußt, sich über das weitere Schicksal „seines“ Schimpansen zu informieren. Eines Tages spazierte der Tierpfleger mit einem Kollegen durch eine Abteilung des Instituts, die er normalerweise nicht betrat. Plötzlich zeigte der Kollege auf einen Käfig, in dem ein Schimpanse durch wilde Gesten offensichtlich auf sich aufmerksam machen wollte. Der Pfleger trat zum Käfig, las an der daran befestigten Karte und stellte fest, daß es sich um jenen Schimpansen handelte, den er einst großgezogen hatte. Das Tier war für Experimente benutzt worden, die schließlich zu seinem Tod führen würden. „Als der Pfleger vor dem Käfig stand, reichte ihm der Schimpanse durch das Gitter die Hand, sah ihm in die Augen, hielt seine Hände fest und starb.“