Tierrechte und Fische
Helmut F. Kaplan
Meine frühesten Kindheitserinnerungen an die Ausbeutung von Tieren betreffen Fische bzw. Meerestiere. Ich denke noch mit Schrecken an die toten Fische im Lebensmittelgeschäft und an die Krabben, die am Strand gefangen wurden. Mir war sofort und unmittelbar klar, welch schreckliche Verbrechen hier geschehen – offenbar als einzigem weit und breit: Damals, vor Jahrzehnten, vor Beginn der Tierrechtsbewegung, gab es noch so gut wie überhaupt kein Bewußtsein von unserem Unrecht gegenüber Tieren.
Heute sind Fische und andere Wassertiere (ich spreche im folgenden der Kürze halber nur mehr von „Fischen“) leider noch immer die am meisten geschundenen Geschöpfe auf Erden. Und dies, obwohl längst erwiesen ist, daß sie genauso leidensfähig sind wie andere Tiere und obwohl ihre Ausbeutung zahlenmäßig alle anderen Grausamkeiten und Gemeinheiten gegenüber Tieren bei weitem übersteigt.
Die Bezeichnung „Meeresfrüchte“ sagt eigentlich alles über den moralischen Stellenwert, den wir Fischen zugestehen: gar keinen. Gleichzeitig ist die Bezeichnung „Meeresfrüchte“ für leidensfähige Lebewesen ein Musterbeispiel für die Verharmlosung, Verleugnung und Verdrängung unserer Tyrannei gegenüber Tieren. Eine schamlosere Verniedlichung als empfindsame Wesen sprachlich und damit moralisch kurzerhand in Pflanzen zu verwandeln, ist kaum denkbar.
Fische sind in mehrfacher Hinsicht die größten Opfer menschlicher Gedankenlosigkeit und Gemeinheit. Zwei Beispiele: Sie profitieren überhaupt nicht vom gesundheitlichen Trend, weniger oder kein Fleisch zu essen. Im Gegenteil: sie gelten als besonders wertvolle Nahrungsmittel und werden daher auch von jenen bevorzugt verzehrt, die aus gesundheitlichen Gründen auf „richtiges Fleisch“ verzichten. Zweitens: Auch viele jener Menschen, die ein (Halb-)Bewußtsein in bezug auf unser Unrecht gegenüber Tieren entwickelt haben, erblicken im Essen von Fischen kaum ein moralisches Problem – es sind ja keine „wirklichen Tiere“, sondern, siehe oben, eigentlich eher „Früchte“!
Fische sind in der Tat ein besonders trauriges Kapitel der Mensch-Tier-Beziehung. Für die Fische, weil sie von der Bewußtseinsveränderung, die in den letzten Jahrzehnten in bezug auf unseren Umgang mit Tieren stattgefunden hat, am wenigsten profitiert haben. Für die Menschen, weil die Behandlung von Fischen unsere armselige intellektuelle und moralische Beschaffenheit drastisch verdeutlicht.
Aufgrund der Zahl der betroffenen Tiere zeigt unsere Ausbeutung von Fischen aber auch wie im Brennspiegel den Unterschied zwischen Tierschutz und Tierrechten – und die Notwendigkeit, letztere zu erkennen und zu verwirklichen: je größer die Zahl der Betroffenen, desto größer auch die Gefahr, den einzelnen, das Recht des einzelnen, zu übersehen. Und exakt dies ist der Kardinalfehler des traditionellen Tierschutzes.
Tierschutz, und das heißt meist kollektiven Tierschutz, vor allem Artenschutz, betreiben auch jene, die sich an Deck von Greenpeace-Schiffen für den Schutz „gefährdeter“ Fische engagieren, während sie unter Deck gedankenlos und guten Gewissens „ungefährdete“ Fische essen. Tierrechte erkennt und praktiziert hingegen, wer auch diese „ungefährdeten“ Tiere achtet – nicht um des Erhalts ihrer Art willen, nicht um der Schönheit und Vielfalt („Artenvielfalt“!) der Natur willen, sondern um dieser Wesen selbst willen.
Tierschützer, die nur Arten schützen, aber das eigenständige Recht individueller Tiere verleugnen, gleichen „Menschenrechtlern“, die, nachdem sie sich des gesicherten Fortbestandes einer „Rasse“ vergewissert haben, hemmungslos Sklaverei, Folter und Kannibalismus betreiben.