Der Verrat des Menschen an den Tieren

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Der Verrat des Menschen an den Tieren

Helmut F. Kaplan

„Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft, und eins, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, und auch nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll.“

Rosa Luxemburg über die als Zugtiere mißbrauchten und geschundenen rumänischen Büffel, die sie durch ihr Zellenfenster beobachten konnte.

 

Verrat ist wahrscheinlich jene Beziehung, die für unser Verhältnis zu Tieren am charakteristischsten ist. Sicher, auch Grausamkeit ist ein hervorstechendes Merkmal unseres Umgangs mit Tieren. Aber Verrat als Grundhaltung geht den einzelnen Akten der Grausamkeit voraus und überdauert diese.

Letztlich sind wohl die meisten Begegnungen von Menschen mit Tieren von Verrat gekennzeichnet. Das trifft nicht nur auf jene widerwärtigen Fotos zu, auf denen lachende Metzger, Bauern oder Politiker mit Tieren zu sehen sind, die sie bald umbringen oder aufessen werden. Verrat ist auch bei scheinbar harmlosen Anlässen allgegenwärtig, etwa wenn wir zufällig mit Tieren in Berührung kommen: Sie sind zutraulich und begegnen uns freundlich und wohlgesinnt, wir aber sind rücksichtslos, bösartig, und heimtückisch – oder haben zumindest entsprechende (Hinter-)Gedanken.

Urbild und diabolischer Höhepunkt unseres Verrates an den Tieren ist das hinterhältige Hinführen der Tiere zum Umgebrachtwerden. Der von Zynismus triefende Text unter einem Foto, das eine Gänseschar mit ihrem „Hirten“ zeigt, veranschaulicht mit schauerlicher Prägnanz den menschlichen Verrat an den Tieren: „Die Gänse folgen Tag für Tag dem Hüter voll Vertrauen ins Nachtquartier. Sie werden demnächst ebenso vertrauensselig wie ahnungslos hinter ihm zur Schlachtbank marschieren.“

Um den menschlichen Verrat an Tieren in seiner ganzen Abartigkeit und Abscheulichkeit aufzuzeigen, wollen wir im folgenden drei hierfür wesentliche Tatsachen herausarbeiten:

 

  1. Tiere verhalten sich uns gegenüber freundlich und hilfreich

Tiere begegnen uns, wie gesagt, in aller Regel freundlich. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen dies anders ist, etwa, wenn uns ein Löwe im Urwald, ein Hai im Ozean oder ein Krokodil im Nil angreift. Aber das sind ausgesprochene Ausnahmen. Moralisch entscheidend und für den Menschen typisch ist, wie wir uns gegenüber jenen Tieren verhalten, mit denen wir „in der Zivilisation“ zusammenleben, die von uns abhängig sind und die uns absolut „nichts getan“ haben.

Tiere begegnen uns aber auch abseits menschlicher Siedlungen oft freundlich, ja sie retten uns manchmal sogar das Leben – „von sich aus“, ohne sich in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zu uns zu befinden. So hat etwa ein Delfin einen 14-jährigen Buben gerettet, der an der süditalienischen Küste vor Apulien in Seenot geraten war. Der Junge, der nicht schwimmen konnte, war von einem kleinen Boot ins Meer gefallen. „Dort habe“, so ein Zeitungsbericht, „sich ein Delfin dem Buben genähert, ihn mit seinem Körper an der Wasseroberfläche gehalten und mit sanften Stößen in Richtung des Bootes befördert“ und ihm so das Leben gerettet.3 Solche tierlichen Rettungsaktionen sind erwiesenermaßen keine Einzelfälle.

E. Gavin Reeve4 berichtet von einem Mischlingshund namens Blackie, der vergeblich versucht hatte, den vier Monate alten Säugling Ian vor dem Feuertod zu bewahren. Beide kamen in den Flammen um.

Zwar hatte niemand den tapferen Rettungsversuch des Hundes direkt beobachtet, aber dieser hatte eindeutige Spuren hinterlassen: leichte Abdrücke seiner Zähne an den Schultern des Babys, die vom Versuch, es vom Feuer wegzuziehen, zeugten.

Dieses war in der Küche ausgebrochen. Während die Mutter zu ihren beiden anderen Kindern eilte, rannte Blackie in Ians Schlafzimmer. Die Mutter hörte einen Bums: wahrscheinlich der Aufprall des Kindes am Boden, nachdem der Hund es aus seinem Bett gezogen hatte.

Der tote Ian wurde nur wenige Zentimeter von Blackies ausgestreckten Pfoten entfernt gefunden.

Der Hund war der Familie ein Jahr zuvor zugelaufen und seit Ians Geburt meist an dessen Bett gesessen.

Zahllose weitere Beispiele für selbstloses Verhalten bei Tieren finden sich bei John Robbins5 und Joan Dunayer6.

 

2. Wir nehmen die Dienste und Hilfe der Tiere gerne und ausgiebig in Anspruch

Daß wir von den Diensten, die uns Tiere erweisen und erweisen können, gerne und ausgiebig Gebrauch machen, ist nicht zu übersehen. Denken wir nur etwa an den vielfältigen Einsatz von Hunden: Sie fahnden nach Drogen, sie suchen nach Verschütteten, sie führen Blinde usw. Überall und immerzu machen wir uns Tiere zunutze. Dabei soll hier gar nicht von jenen Bereichen die Rede sein, in denen von vornherein augenscheinlich ist, daß wir die Tiere nicht nur nutzen, sondern schlicht AUSNUTZEN, etwa bei der Erzeugung von Fleisch oder bei der Durchführung von Experimenten mit ihnen. Vielmehr wollen wir unsere Neigung, Tiere für uns dienstbar zu machen, an einer im Vergleich zu anderen Nutzungen äußerst harmlosen Praxis demonstrieren, den sogenannten „Tiertherapien“.

Die therapeutische Wirkung von Tieren wird gezielt eingesetzt, etwa in Krankenhäusern, Erziehungsheimen und Gefängnissen. Worum es dabei grundsätzlich geht, erläutert das Informationspapier „‘Heilkraft‘ der besonderen Art“7 des österreichischen Instituts für interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung: „Für die Menschen der Antike war es selbstverständlich, was neueste Forschungen nun empirisch beweisen: daß Menschen, die mit einem … Heimtier zusammenleben, ausgeglichener sind, freundlicher und ‘stabiler‘. Daß sie Krankheiten leichter bewältigen und Krisen besser meistern.“ Ein konkretes Beispiel8 soll Wesen und Wirkung der Tiertherapie veranschaulichen:

„Sie heißt Anna; ist Patienten im Psychiatrischen Krankenhaus auf der Baumgartner Höhe in Wien; geistig schwer behindert. Sie wird nie ohne stationäre Behandlung auskommen können. Der Initiative moderner Psychiater verdankt sie es, einmal wöchentlich ‚Tierbesuch’ zu bekommen. Eine junge Wiener Tierpädagogin hat das organisiert: Sie kommt mit Hund und Hasen, Hamster und Huhn. Läßt sie von den Patienten streicheln, füttern, zeichnen. Sieht ein Lächeln auf sonst leeren Gesichtern.

Nur Anna reagiert nicht; monatelang nicht. Oder höchstens mit einem bösen Achselzucken. Ein letzter Versuch: Man zeigt ihr einen jungen Zwerghamster und ihm gelingt das kleine, große Wunder: ‚Liab’, sagt die Anna. Diese Anna, die von sich aus keine Silbe artikuliert, die bestenfalls einzelne Worte nachsprechen kann. Dem Mini-Hamster ist gelungen, was geduldige Therapeuten bislang nicht schaffen konnten: die ‚Mauer’ zu durchbrechen, die diese Kranke umgibt.“

Der Einsatzbereich von „Tiertherapien“ oder „tiergestützten Therapien“, wie diese systematische Nutzbarmachung der heilenden Wirkung von Tieren auch genannt wird, ist groß – entsprechend der Grundthese dieser vergleichsweise neuen Disziplin: „Wesen mit Flossen, Fell oder Flügeln können helfen, Krankheiten und Behinderungen von Menschen zu heilen oder zu lindern.“9 Sehen wir uns stellvertretend für das breite Anwendungsspektrum von Tiertherapien drei Bereiche an:

Zunächst ein Beispiel für die Behandlung von Behinderten mittels Delfinen: „Die 20 Monate alte Lea-Paulina ist mit einem Hirnschaden geboren worden und meist ganz in ihrer Innenwelt befangen. Was andere Außenreize kaum vermögen, gelingt Nickkis Delfinschnauze: Sie weckt für Sekunden die gesammelte Aufmerksamkeit des Mädchens.“10 (Wir verwenden Delfine, um Minen aufzuspüren.11)

Auch Hühner helfen Menschen, im Leben wieder zurechtzukommen: „Ein Huhn kann Halt geben und das Herz wärmen, wenn das Vertrauen in Menschen zerrüttet ist. Vernachlässigte, misshandelte und missbrauchte Jugendliche … treffen im amerikanischen Farm-Internat ‚Green Chimneys’ auf Seel-Sorger mit Federn ….“12 (Wir sperren Hühner lebenslang in Drahtkäfige, deren Grundfläche pro Tier deutlich kleiner ist als eine Druckseite des „Spiegel“.13)

Besonders vielfältig ist der Einsatzbereich von Hunden (denen wir zu Versuchszwecken Sprengstoff verfüttern bis sie daran elend zugrundegehen14). Über die Ausbildung zum Blindenhund erfahren wir:

„Bis zu einem Jahr werden geeignete Hunde von Spezialausbildern trainiert, Menschen zur nächstgelegenen freien Parkbank oder ans Treppengeländer zu führen. Die Hunde lernen, mit der Schnauze anzuzeigen, wo der Griff einer Haus- oder S-Bahn-Tür ist. Sie üben, Hindernisse in Menschenkopfhöhe zu umgehen, tief hängende Zweige oder aufgespannte Regenschirme. Sie trainieren, sich von anderen Hunden nicht ablenken zu lassen, solange sie das Geschirr tragen. Und sie werden geschult, bei Gefahr für ‚ihren’ Menschen den Gehorsam zu verweigern,  wenn zum Beispiel unversehens ein Auto um die Ecke biegt.“15 

Mindestens vier Wochen lang wird dann der Hund gemeinsam mit dem ihm anvertrauten Menschen vom Hundeausbilder betreut. Am Anfang steht ein erster kurzer Besuch zum Kennenlernen, dann folgt die erste Übernachtung beim neuen Herrchen. Spaziergänge beginnen in ruhigen Gegenden, dann kommen Ampeln hinzu und Treppen. Am Ende stehen die Eingewöhnung ins neue Wohnviertel sowie die emotionale Abnabelung vom Ausbilder.

Wurden früher Schäferhunde als „Prothesen“ für Kriegsblinde ausgebildet, sind heute die als besonders sanft und gutmütig geltenden Labrador Retriever und Golden Retriever als Helfer besonders beliebt – und haben einen erweiterten Einsatzbereich:

  • „Behinderten-Begleithunde“ tragen für Körperbehinderte Packtaschen, ziehen Rollstühle, holen Wäsche aus der Maschine, bedienen Schalter usw.
  • „Hörhunde“ alarmieren Taube, wenn der Wecker klingelt oder jemand an die Tür klopft.
  • „Epilepsie-Hunde“ spüren, wann bei ihrem Besitzer ein Anfall bevorsteht und warnen ihn rechtzeitig davor. Wie sie dies erkennen können, ist noch ungeklärt, aber es funktioniert.16

 

3. Wir beuten die Tiere hemmungslos aus und foltern sie rücksichtslos zu Tode

3.1 Krieg

Das Titelbild des GEO-Heftes, dem vorangehende Ausführungen entnommen sind, zeigt ein liegendes Kind mit geschlossenen Augen, das ein kleines, friedlich schlafendes Schweinchen an seinen Hals drückt. Ein Bild perfekter Harmonie und Geborgenheit, das die Titelgeschichte „Tiere als Therapeuten – Wie sie Menschen heilen helfen“ veranschaulicht.

Einer Ankündigung zur Sendung „ZDF-Reporter“ am 5. 12. 200117 ist folgende Information zu entnehmen: „Bis vor wenigen Jahren waren ganz kleine Ferkel eine Delikatesse für Gourmets. Milchferkel werden diese Tiere genannt, die direkt von der Mutter weggenommen werden und geschlachtet werden. Die Ernährung eines Milchferkels darf nur – daher der Name – Muttermilch sein – darauf legt der Feinschmecker Wert …. ( … ) Die sog. ‚Babyferkel’ wiegen 6, 8 oder 12 Kilo, sind 3 bis 6 Wochen alt. Ihre Lebensdauer richtet sich nicht selten nach der Größe der Party, auf der sie … serviert werden. ( … ) Oft sind nur zwei oder drei Kilo Fleisch an den Tieren, wenn sie gegrillt zur Partylaune beitragen.“

Unter der Überschrift „Quiekender Detektor“18 erfahren wir Wissenswertes über tierliche Minensucher, sogenannte „Biodetektoren“. Bewährt habe sich vor allem eine Kombination von Tier und Technik: „Feine Hundenasen spüren den Sprengstoff einer Mine auf, Detektoren das Metall.“ So wertvolle Arbeit diese und andere Tiere auch leisten mögen (Ratten erwiesen sich ebenso als effiziente „Biosensoren“), für sie selbst sind diese Einsätze meist eher kontraproduktiv: „Die Geschichte von Tieren als Minensucher ist lang, deren Karrieren in den meisten Fällen kurz.“

Minensuche ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem „Aufagabenbereich“, den wir Menschen den Tieren im Zusammenhang mit kriegerischem Geschehen zugedacht haben. Und Hunde nehmen hier zwar eine „bevorzugte“ Stellung ein (bereits die alten Griechen und die Assyrer führten Hunde in ihre Schlachten mit), sind aber bei weitem nicht die einzigen Tiere, die im Krieg mißbraucht wurden und werden. So setzten etwa die Deutschen im ersten Weltkrieg 300.000 Pferde zum Transportieren von Ausrüstung und Munition ein. Unter anderem mußten die Tiere sechsspännig bis zu 160 Zentner schwere Geschütze durch halb Europa karren.19

Die DDR setzte Hunde an der innerdeutschen Grenze ein, um Republikflüchtlinge zu „vernichten“ (Militärhistoriker Georg Meyer). Das brachte unbezweifelbare Vorteile mit sich: Der Hund ist blind für die Motive seiner Opfer und beißt auch nicht aus Versehen daneben. Natürlich waren diese tierlichen „Grenzschützer“ nach ihrem Einsatz im sogenannten „Todesstreifen“ nicht mehr resozialisierbar.20 Welches Schicksal ihnen bevorstand, kann man sich unschwer ausmalen.

Auch Delfine kamen zum Einsatz. So wurden etwa im Vietnamkrieg Große Tümmler (Typ „Flipper“) zum Schutz von US-Kriegsschiffen mit Messern ausgerüstet, um feindlichen Tauchern die Sauerstoffschläuche zu durchschneiden. In Sewastopol, dem Haupthafen ihrer Schwarzmeerflotte, brachten die Sowjets  Belugawalen, Seelöwen und Tümmlern bei, verlorengegangene Torpedos zu suchen und Minen aufzuspüren.21

Das Verratsmoment kommt im Krieg auf besonders scheußliche Weise zum Vorschein, da Tiere nicht nur als „Kampfgefährten“ eingesetzt, sondern auch als Testobjekte mißbraucht werden. Damit sind wir bei der sogenannten „wehrmedizinischen Forschung“, einem Tarnnamen für Tierversuche im Dienste des Krieges.

So wurden etwa mehreren Berichten zufolge von der Bundeswehr Hunde systematisch vergiftet und mit 5,56-mm-Kalibern beschossen.22 Über ein aktuelles Beispiel für diese unglaublichen Verbrechen an Tieren berichtet die israelische Zeitung Ha´aretz am 17. 3. 2000: Ein Wohnwagen, in dem lebende Schweine festgebunden sind, wird mit Scud Raketen ähnlichen Sprengstoffen in die Luft gejagt. Ein Augenzeuge berichtet:

„Als wir den Wohnwagen öffneten, mussten wir uns abwenden. Die Schweine lagen da, schreiend und quiekend. Es war offensichtlich, dass die Detonation sie innerlich zerfetzt hatte und dass das Glas der zerborstenen Fenster ihnen von außen zahlreiche Schnittwunden zugefügt hatte. Die Wände waren voll mit dem Blut, Urin und Kot der gefesselten Schweine. Sie sahen uns mit weiten, flehenden Augen voller Grauen an.“23 

3.2 Schlachthof*

Tiere werden aber nicht nur in der Ausnahmesituation Krieg rücksichtslos ausgebeutet und zutodegeschunden, sondern auch unter „ganz normalen“ Bedingungen. Dies ist doppelt tragisch, weil es einerseits die Zahl der betroffenen Tiere in unendliche Höhen treibt und weil andererseits diese alltäglichen Praktiken den „Ausnahme“-Massakern an Schrecken in nichts nachstehen.

Christiane M. Haupt berichtet von ihrem Pflichtpraktikum, das sie als angehende Tierärztin im Schlachthof zu absolvieren hatte.24 Zunächst über ihre Erlebnisse mit Schweinen:

„Von hinten stupst mich etwas in die Kniekehle, ich fahre herum und blicke in zwei wache blaue Augen. ( … ) Ich werde diese Augen sehr bald noch anders kennenlernen: Stumm schreiend vor Angst, von Schmerzen stumpf, und dann blicklos, gebrochen, aus den Höhlen gerissen, über den blutverschmierten Boden kollernd. ( … )

Als ich zum ersten Mal bewußt erfasse … dass ausgeblutete, abgeflammte und zersägte Schweine noch zucken und mit dem Schwänzchen wackeln, bin ich nicht in der Lage, mich zu bewegen. ‚Sie – sie zucken noch …‘, sage ich … zu einem vorübergehenden Veterinär. Der grinst: ‚Verflixt, da hat einer `nen Fehler gemacht – das ist noch nicht richtig tot!’ ( … )

Von dem Schwein möchte ich erzählen, das nicht mehr laufen konnte, mit gegrätschten Hinterbeinen dasaß. Das sie solange traten und schlugen, bis sie es in die Tötungsbox hineingeprügelt hatten. Das ich mir hinterher ansah, als es zerteilt an mir vorüberpendelte: beidseitiger Muskelabriss an den Unterschenkeln. Schlachtnummer 530 an jenem Tag, nie vergesse ich diese Zahl. Ich möchte von den Rinderschlachttagen erzählen, von den sanften braunen Augen, die so voller Panik sind. Von den Fluchtversuchen, von all den Schlägen und Flüchen, bis das unselige Tier endlich im eisernen Pferch zum Bolzenschuss bereit steht, mit Panoramablick auf die Halle, wo die Artgenossen gehäutet und zerstückelt werden ….“

Daß Christiane M. Haupt keineswegs einen besonders schlechten Schlachthof zu einer besonders ungünstigen Zeit erwischt hatte, bewies im Jahre 2001 auf schauerliche Weise ein 12-minütiges Videoband über den ganz normalen Schlachthofalltag. Es entstand nicht mittels „versteckter Kamera“, sondern bei einem offiziell genehmigten Drehtermin in einem EU-zertifizierten Schlachthof in der oberösterreichisch-bayrischen Grenzregion.25 Eine Schlüsselszene:

„Ein mächtiger Stier, mittels Eisenkette am Hinterbein hochgezogen, hängt kopfüber am Fließband – durch den Bolzenschuss scheinbar betäubt. Der Schlächter schneidet ihm mit einem großen Messer den Hals auf, ein Blutschwall bricht hervor. ( … ) Plötzlich geschieht etwas, was den Betrachter erschaudern läßt: Während der Schlächter, geschäftig vor sich hin pfeifend, die Brust aufschlitzt, öffnen und schließen sich langsam die Augen des Tieres. Und dann beginnt der Stier zu brüllen – auf dem Video deutlich hörbar: ein schauderhaftes, heiser-gurgelndes Muhen übertönt den Lärm des Schlachtvorgangs. Schließlich bäumt sich das blutüberströmte Tier am Haken sogar noch einige Male auf. Der Schlächter, der gerade die Vorderhufe abschneidet, muss in Deckung gehen. Der Todeskampf dauert lange Minuten.“26 

Diese schauerliche Szene gehört, wie gesagt, zum Schlachthofalltag (wobei es sich beim betreffenden Schlachthof angeblich sogar um einen „Vorzeigebetrieb“ handelt, weshalb angenommen werden muß, daß es anderswo noch brutaler zugeht27): Von 30 Tieren, die hier innerhalb einer Stunde mittels Bolzenschuß betäubt wurden, erwachten 6 wieder.28

Eine Überarbeitung des Videos (das von mehreren deutschen TV-Magazinen gezeigt wurde29), bei der bisher nicht gezeigte Sequenzen hinzugefügt wurden, förderte weitere schaurige Details zutage: „In der neuen Fassung ist zu sehen, dass der Stier nicht nur brüllt, während er sich im Todeskampf minutenlang windet. Als der Schlächter sich und den Schlachtraum mit einem Wasserschlauch vom vielen Blut reinigt, versucht sich das geschundene Tier mit letzter Kraft und herausgestreckter Zunge zum Wasserstrahl hinüberzubeugen. Die Aufnahman dokumentieren eindeutig: Diese Tiere sind bei vollem Bewusstsein. Sie nehmen ihre Umwelt noch wahr, während sie am Förderband aufgeschnitten und zu Fleisch verarbeitet werden.“30

Aktueller Anlaß – neben dem Dauerskandal mangelnde Kontrolle und Betäuben im Akkord (!) – für die unzureichende Bolzenschußbetäubung sind BSE-bedingte Veränderungen in den Schlachtmethoden: Seit Jahresbeginn 2001 ist in der EU der Einsatz des sogenannten „Rückenmarkzerstörers“ verboten, weil damit potentiell infiziertes Nervengewebe über den ganzen Tierkörper verteilt werden könnte. Dieser Stab wurde durch das Einschußloch ins Rückenmark eingeführt, wodurch der Hirntod irreversibel wurde und das Tier garantiert keinen Schmerz mehr spürte.

Mit dem Verzicht auf den Rückenmarkzerstörer seien, so Ingrid Schütt-Abraham vom deutschen Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, „unzureichende Ergebnisse programmiert“ gewesen. Andererseits habe dieser Verzicht, wie Veterinär Karl Wenzel vom Münchner Verbraucherministerium feststellt, ans Licht gebracht, daß Fehlbetäubungen vorkommen bzw. bei manchen Tieren die bisherige Bolzenschußbetäubung schlicht nicht ausreicht. Dazu Klaus Troeger von der deutschen Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach: Vor dem EU-Erlaß vom Jänner 2001, also vor dem Verbot des Rückenmarkzerstörers, wurden „Probleme durch nicht korrekt platzierte Bolzenschüsse verdeckt“.31

3.3 Verrat*

Was Verratenwerden bedeutet, haben einige von uns schon an eigener Seele schmerzlich erfahren müssen. Mitunter dauert es Jahre, bis man sich vom lähmenden Entsetzen über unfaßbare Untreue wieder erholt. Nicht selten hält der Schock ein Leben lang an.

Doch welch Kleinigkeiten sind dies im Vergleich zum Verrat an Tieren! Auch zu ihnen, die jetzt im Schlachthof sind, waren Menschen vielleicht einmal gut. Biobauern etwa werden ja nicht müde zu beteuern, welch gutes Verhältnis sie zu ihren Tieren haben. Die Bilder von Bauern, die ihre Tiere „liebevoll“ streicheln, kennen wir auch alle. Und dann finden sich diese Tiere auf einmal in der Hölle wieder, umgeben von Menschen, die ihnen die ungeheuerlichsten und grauenhaftesten Dinge antun.

Die Tierarztpraktikantin Christane M. Haupt, hat den Verrat an Tieren stellvertretend für die Fleischesser durchlebt – und ist daran zerbrochen: „Ich habe Zeugnis abgelegt, und jetzt will ich versuchen zu vergessen, um weiterleben zu können. Kämpfen mögen nun andere; mir haben sie in jenem Haus die Kraft dazu genommen … und sie gegen Schuld und lähmende Traurigkeit ausgetauscht.“32

Daß die bisher beschriebenen Greuel lediglich die Spitze des Eisbergs der weltweit täglich in Schlachthäusern „zivilisierter“ Länder verübten Verbrechen darstellen, zeigt Gail A. Eisnitz´ Buch „Slaughterhouse“, für das die Autorin Schlachthausarbeiter mit einer Erfahrung von insgesamt zwei Millionen Stunden an der Betäubungsbox befragt hat. Die folgenden Auszüge aus Interviews mit Schlachthausarbeitern wurden auf einer Buchpräsentation der Autorin am 18. September 1999 der Öffentlichkeit vorgestellt:33

„Ich habe lebendiges Rindfleisch gesehen. Ich habe sie muhen gehört, wenn die Leute das Messer anlegen und versuchen, die Haut abzunehmen. Ich denke, dass es grausam für das Tier ist, so langsam zu sterben, während jeder seine verschiedenen jobs an ihm macht.“

„Die Mehrzahl von Kühen, die sie aufhängen …, ist noch am Leben. Sie öffnen sie. Sie häuten sie. Sie sind immer noch am Leben. Ihre Füße sind abgeschnitten. Sie haben ihre Augen weit aufgerissen und sie weinen. Sie schreien, und du kannst sehen, wie ihnen die Augen fast rausspringen.“

„Ein Arbeiter hat mir erzählt, wie eine Kuh, die mit ihrem Bein in dem Boden eines Lasters steckengeblieben ist, zusammengebrochen ist. ‚Wie hast du sie lebendig rausgekriegt?’ habe ich den Typ gefragt: ‚Oh’, sagte er, ‚wir sind einfach unter den Laster gegangen und haben ihr Bein abgeschnitten.’ Wenn jemand dir das sagt, weißt du, es gibt viele Dinge, die dir niemand sagt.“

„Ein anderes Mal war ein lebendes Schwein, das hatte nichts Verkehrtes gemacht, rannte noch nicht mal rum. Ich nahm ein 1 Meter langes Stück Rohr und ich schlug das Schwein praktisch zu Tode.“

„Wenn du ein Schwein hast, das sich weigert, sich zu bewegen, nimmst du einen Fleischhaken und hakst ihn in seinen Anus. ( … ) Dann ziehst du ihn zurück. Du ziehst diese Schweine während sie leben und oft reißt der Haken aus dem Arschloch.“

„Einmal nahm ich mein Messer – es ist scharf genug – und ich schnitt das Ende von einem Schwein seiner Nase ab, so wie ein Stück Frühstücksfleisch. Das Schwein ist für ein paar Sekunden verrückt geworden. Dann saß es einfach da und sah einfach dumm aus. Also nahm ich eine Handvoll Salzlake und rieb es ihm in die Nase. Jetzt ist das Schwein wirklich ausgeflippt und schob seine Nase überall in der Gegend rum. Ich hatte immer noch etwas Salz übrig auf meiner Hand und steckte das Salz direkt rein in den Arsch des Schweins. Das arme Schwein wusste jetzt nicht mehr, ob es scheißen oder blind werden sollte.“

„Nach einer Zeit wirst du abgestumpft. ( … ) Wenn du ein lebendiges Schwein hast …, tötest du es nicht einfach. Du willst, dass es Schmerzen hat. Du gehst hart ran, zerstörst ihm die Luftröhre, machst, dass es in seinem eigenen Blut ertrinkt. ( … ) Ein lebendes Schwein guckte an mir hoch und ich nahm einfach mein Messer und – eerk – nahm ihm das Aug raus, während es einfach da saß. Und dieses Schwein schrie einfach nur.“

*Von den diversen einschlägigen aktuellen Berichten, die ich laufend auf Facebook poste, weiß ich, daß grauenvolle Zustände und Praktiken inklusive Fehlbetäubungen nach wie vor zum Schlachthausalltag gehören. H. F. K., Mai 2017

Anmerkungen

1Zitiert nach: Godofredo Stutzin: Auf des Condors Flügeln. Santiago, Chile, 2000?, ISBN 956-7033-10-2, S. 99.

2Die Gans im Glück kennt den Kalender nicht, Salzburger Nachrichten, 6. 11. 1998, S. 8.

3Ein Delfin rettete 14-jährigen Italiener, Salzburger Nachrichten, 30. 8. 2000, S. 8.

4Speciesism and Equality, Philosophy, 53, 1978, S. 562.

5Diet for a New America. Walpole: Stillpoint Publishing, 1987, S. 20 ff.)

6The Nature of Altruism, Animals´Agenda, April 1990, S. 27 ff.

7Wien, 1989, S. 2.

8Ebenda, S. 1.

9Tiere als Therapeuten, GEO, 3, 2001, S. 96.

10Ebenda, S. 98.

11Leo, Luchs und andere Rekruten, ZIVIL (Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit), 3, 2000, S. 21.

12Tiere als Therapeuten, GEO, 3, 2001, Seite nicht eruierbar. (Mir liegt der Artikel nur in einer kopierten Fassung vor, H. F. K.)

13Möbel im Drahtverhau, Der Spiegel, 32, 2000, S. 200.

14Peter Singer: Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere. Reinbek: Rowohlt, 1996, S. 69.

15Tiere als Therapeuten, GEO, 3, 2001, Seite nicht eruierbar. (Mir liegt der Artikel nur in einer kopierten Fassung vor, H. F. K.)

16Ebenda.

17E-Mail-Information der „TR-Nachrichten-Austria“, die sich ihrerseits auf eine Ankündigung des „Vereins gegen Tierfabriken“ vom 4. 12. 2001 bezieht. (Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden korrigiert und vereinheitlicht, H. F. K.)

18Die Zeit, 36, 2001, S. 25.

19Leo, Luchs und andere Rekruten, ZIVIL (Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit), 3, 2000, S. 20.

20Ebenda.

21Ebenda, S. 21.

22Ebenda.

23Aus einer Information der „Menschen für Tierrechte – Tierversuchsgegner Baden-Württemberg e. V.“ vom 19. 9. 2000.

24Christiane M. Haupt: „Um eines kleinen Bissens Fleisches willen …“. Gekürzter Erlebnisbericht. Ungekürzt erschienen in: Vegi-Info, 1998, 2, S. I ff., der Schweizerischen Vereinigung für Vegetarismus. Als Sonderdruck erhältlich im Vegi-Büro, CH-9466 Sennwald. Für Bildmaterial siehe im Internet: www.vegetarismus.ch

25Todeskampf am Fließband, News, 19, 2001, S. 68.

26Ebenda.

27Weltweite Schlachthäuser-Kampagne, E-Mail von Dr. [Friedrich] Landa, Präsident des Dachverbandes der Oberösterreichischen Tierschutzorganisationen, vom 29. 5. 2001.

28“Der Verlierer ist die Kreatur“, Der Spiegel, 42, 2001, 290.

29Ebenda.

30Schlacht-Video mit neuen Details, E-Mail von Dr. Friedrich Landa, Präsident des Dachverbandes der Oberösterreichischen Tierschutzorganisationen, vom 25. 6. 2001.

31“Der Verlierer ist die Kreatur“, Der Spiegel, 42, 2001, S. 290, 292.

32Christiane M. Haupt: „Um eines kleinen Bissens Fleisches willen …“. Vergleiche Anmerkung 24.

33SCHLACHTEN: Und sie leben immer noch …, E-Mail von Dr. Friedrich Landa, Präsident des Dachverbandes der Oberösterreichischen Tierschutzorganisationen, vom 6. 8. 2001.

(Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden korrigiert und vereinheitlicht, H. F. K.)