Aktion und Ethik – Theorie und Praxis der Tierrechtsbewegung
Helmut F. Kaplan
In der Tierrechtsbewegung wird immer wieder darüber gestritten, was denn letztlich wichtiger sei: Theorie oder Praxis, Philosophieren oder Demonstrieren, Ethik oder Aktion? Im folgenden möchte ich zeigen, daß diese Alternative unsinnig ist: Es geht nicht um Theorie oder Praxis, sondern um Theorie und Praxis! Die Notwendigkeit, beide Bereiche ernstzunehmen und auszuüben, möchte ich anhand von drei Beispielen verdeutlichen.
1) Es heißt völlig zu Recht: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Nichts erzeugt mehr Wut und solch einen Wunsch, selbst tätig zu werden, wie etwa ein Film über Tiertransporte oder Tierschlachtungen. Das ist die praktische Seite.
Andererseits wissen wir aber leider auch, daß die Wirkung solcher Filme bei den meisten Menschen sehr rasch wieder verblaßt. Warum? Weil gleich wieder die alten, bequemen Vorurteile auftauchen und das Gesehene relativieren oder zunichte machen: „Fressen und Gefressenwerden ist nun einmal der Lauf der Welt.“ „Tiere wurden doch für den menschlichen Verzehr geschaffen.“ „Tiere leiden auch nicht so schrecklich, wie wir uns das vorstellen.“ Usw.
Und weil es so ist, daß die Wirkung von Bildern durch alte speziesistische Konzepte immer wieder zerstört wird, ist es unerläßlich, den Menschen zusätzlich zu Bildern auch neue ethische Ideen zu liefern, die diese alten Konzepte neutralisieren.
2) Schopenhauer sagt ganz richtig: Mitleid ist die Grundlage und Triebfeder aller Moral. Und ausgelöst wird Mitleid durch unmittelbare Konfrontation mit dem Leiden: mit den Leidenden selbst oder mit Bildern oder Filmen von ihnen. Wenn wir dieses Leiden dann sehen, leiden wir mit, haben Mitleid und wollen helfen. Soweit wieder die praktische Seite.
Aber Schopenhauer hat auch erkannt, daß es Situationen gibt, in denen das Mitleid zu spät, zu wenig oder gar nicht auftritt. Im Zusammenhang mit Tieren wird das sogar die Regel sein, weil das Leiden der Tiere ja bewußt und systematisch versteckt wird: hinter dicken Mauern, bunten Verpackungen und lustigen Sprüchen.
Und in solchen Fällen, wo kein Mitleid ausgelöst wird – etwa wenn wir im Supermarkt ein Tier kaufen oder im Restaurant bestellen wollen, das als solches nicht mehr erkennbar ist -, bedarf es moralischer Grundsätze. Da hilft kein Mitleid, weil keines entsteht. Hier brauchen wir wieder die Ethik, die „Theorie“, die Maximen, um auch in jenen Situationen richtig zu handeln, in denen uns kein Mitleid den Weg weist.
3) Wir sind als Menschen denkende und fühlende Wesen. Und wir wissen, wie weh es tut, wenn zwischen Gedanken und Gefühlen ein Widerspruch herrscht. Wenn wir etwa jemanden lieben, von dem wir verstandesmäßig wissen, daß er es gar nicht wert ist. Oder wenn wir als Tierrechtler das sichere Gefühl haben, im Recht zu sein, und plötzlich irgendjemand mit einem dummen speziesistischen Einwand daherkommt, den wir nicht gleich entkräften können. Das erzeugt extremes Unbehagen, immense Unruhe, es beginnt sofort in uns zu arbeiten: Diese unerträgliche Spannung wollen wir so rasch wie möglich loswerden.
Diese kreative Unruhe können wir aber auch bewußt und gezielt einsetzen! Wir müssen den Menschen neue Gefühle einpflanzen, die nicht zu ihren alten speziesistischen Gedanken passen, und neue Gedanken, die nicht zu ihren alten speziesistichen Gefühlen passen. Damit erreichen wir alle, die wir erreichen können, und haben eine gute Chance, sie für unsere Sache zu gewinnen. Denn die objektiven Fakten und stichhaltigen Argumente liegen ohnehin auf unserer Seite.
Der unsinnige und schädliche Theorie-Praxis-Streit muß endlich begraben werden. Wir brauchen beides: spektakuläre Aktionen und überzeugende Begründungen!