„Die Menschen kommen zuerst!“
Helmut F. Kaplan
Einer der beliebtesten und dümmsten Vorwürfe gegen Tierrechtler lautet: „So lange es auf der Welt so viel menschliches Leid gibt, ist es unverantwortlich, Zeit und Energie für Tiere zu verschwenden. Die Menschen kommen zuerst!“
Wer diese Forderung erhebt, beweist zweierlei: Erstens, daß er nicht weiß, wovon er spricht, und zweitens, daß er nicht zu jenen gehört, denen die Menschen wirklich am Herzen liegen: Wer sich nämlich wirklich um Menschen kümmert, dem sind auch die Tiere ein Anliegen, und wer sich wirklich um Tiere kümmert, dem sind auch die Menschen ein Anliegen. Ethik ist unteilbar! „Die Menschen kommen zuerst!“ ist ein billiger und schäbiger Vorwand dafür, um weder für Tiere noch für Menschen etwas zu tun.
In Wirklichkeit sind ja auch Tierrechtsbewegung und Menschenrechtsbewegung eine Einheit. Man kann nicht Sklaven befreien oder Frauen emanzipieren oder Homosexuelle anerkennen oder Tiere schützen. Vielmehr muß man einfach einmal erkennen: Die Interessen eines Lebewesens dürfen nicht deshalb weniger zählen, weil dieses Lebewesen zu einer anderen Gruppe gehört.
In der konkreten Praxis ist freilich, wie im gesamten Bereich gemeinnütziger Tätigkeiten, eine Aufgabenteilung sinnvoll und selbstverständlich. Daher ist auch überhaupt nichts Anstößiges daran, daß sich einige Menschen auf die Belange von Tieren konzentrieren. Einer Museumsgesellschaft wird schließlich, wie Gotthard M. Teutsch treffend feststellt, auch nicht vorgeworfen, daß sie sich nur um alte Kunst und nicht auch um alte Menschen kümmert!
In weiten Bereichen läßt sich Menschen- und Tierliebe aber ohnehin trefflich unter einen Hut bringen. So wird zum Beispiel niemand in seinem Engagement für Menschen dadurch beeinträchtigt, daß er keine Tiere umbringt und aufißt!
Darüber hinaus sind solche absoluten Prioritätensetzungen wie „Die Menschen kommen zuerst!“ ohnehin von vornherein unsinnig und unverantwortlich. Nehmen wir etwa die Forderung: „Für unsere Nächsten sind wir mehr verantwortlich als für Fremde.“ Das können wir zwar vielleicht im Konfliktfall als Verhaltensregel akzeptieren. Aber es wäre doch, wie Teutsch bemerkt, völlig abwegig, Fremden immer erst zu helfen, wenn bei unseren Nächsten alle Bedürfnisse voll befriedigt sind! Es wäre absurd zu sagen: „Spenden für verhungernde Kinder in Afrika kommen erst in Frage, wenn alle meine Kinder einen eigenen Fernseher haben.“
Oder nehmen wir die an sich vernünftige Prioritätensetzung: „Überleben ist wichtiger als Gleichberechtigung.“ Selbst hier wäre eine Verabsolutierung unverantwortlich. Das erkennt man sofort an der Unhaltbarkeit eines Vorwurfs wie: „Wie kann man nur bei uns für die Gleichberechtigung der Frauen kämpfen, solange sich in Afrika die Menschen gegenseitig abschlachten!“ Absolute Prioritätensetzungen sind, wie leicht erkennbar, unsinnig und unmenschlich.
Auch geht es nicht nur um abstrakte Prioritäten, sondern auch darum, wo uns Leid und Unrecht persönlich konkret begegnen. Wenn wir zum Beispiel zu einem Autounfall kommen, wäre es abwegig zu sagen: „Leider kann ich hier jetzt nicht helfen, denn anderswo gibt es noch viel schrecklichere Unfälle!“ Selbstverständlich müssen wir dort handeln und eingreifen, wo wir Leid und Unrecht antreffen. Und: Mit Unrecht gegenüber Tieren werden wir täglich konfrontiert – auf unserem Teller.