Die Pflicht des Stärkeren

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Die Pflicht des Stärkeren

Helmut F. Kaplan

Unter dem Titel „Der Fundi und das Fossil“ berichtete Der Spiegel (Nr. 20, 1999):

„Sie sind die Repräsentanten zweier Welten, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Blut und Wasser schwitzten die ,Sherpas‘ der deutschen wie der kubanischen Seite, die das Treffen der großen Männer organisiert hatten: Würden die Fetzen fliegen, sollte es – Ring frei – gar zu einem Eklat der Kontrahenten kommen?

Hans-Olaf Henkel, 59, Chef des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) und knallharter Turbokapitalist, traf … auf den am längsten regierenden Diktator der Welt, den kommunistischen Altrevolutionär Fidel Castro, 72. ( … )

Castro kam klassisch, im olivgrünen Kampfanzug, gestriegelt den grau gewordenen, den ewigen Revolutionsbart; Henkel konservativ, Jackett und Schlips, mit randloser Brille und streng gescheitelt, die Aura eines Musterschülers. Es gab Pastetchen, Fleischspieß und Languste.“

In einem Punkt sind sich also auch die gegensätzlichsten Menschen von vornherein einig: im Aufessen und Ausbeuten von Tieren!

Das ist die große Tragik der Tiere und die große Schande der Menschen – und wirft ein bezeichnendes Licht auf ein moralisches Grunddilemma: Das Verbindende zwischen zweien können wir nur mittels Ausgrenzung Dritter begreifen. Das Verbindende zwischen Menschen können wir nur mittels Ausgrenzung der Tiere erfassen: „Wir sind doch alle Menschen!“ – sprich: keine Tiere!

Offenbar können wir Frieden und Freundschaft mit einem Partner nur bei gleichzeitiger Feindschaft gegenüber einem anderen erkennen und erleben. Ein ebenso bedauerliches wie gefährliches Muster: Jeder Friedensschluß bedeutet gleichzeitig eine Kriegserklärung.

Wir müssen in der Ethik endlich wegkommen vom Prinzip der Ausgrenzung und hin gelangen zum Prinzip der Eingrenzung. Sicher: Jede Eingrenzung beinhaltet insofern eine Ausgrenzung als das, was sich jenseits des Eingegrenzten befindet, draußen ist. Gemeint ist aber vielmehr folgendes: Wir müssen vom sogenannten „Recht des Stärkeren“, das, eingestanden oder nicht, de facto unser Handeln bestimmt, zum Prinzip der Pflicht des Stärkeren kommen. Aus der Berechtigung, den Schwächeren auszubeuten, muß die Verpflichtung werden, den Schwächeren zu beschützen – und zwar nicht nur formal und auf dem Papier, sondern tatsächlich und tagtäglich.

Diesen Wandel zu verwirklichen bedeutete freilich nicht weniger als die völlige Veränderung unseres bisherigen Denkens und Handelns. Daß dies schwer bis unmöglich sein wird, ändert nichts daran, daß unser bisheriges Verhalten ethisch erbärmlich und faktisch gefährlich ist: Wer Teile der Welt – Menschen, Tiere, Pflanzen – fortwährend und automatisch zu Feinden erklärt und entsprechend behandelt, sprich: vernichtet, wird eines Tages ohne Welt und das heißt ohne Lebensgrundlagen dastehen.