Ist der Mensch von Natur aus Veganer?
Helmut F. Kaplan
Im Zusammenhang mit dem Veganismus werden immer wieder falsche Zusammenhänge unterstellt. Und zwar zwischen den Begriffen „natürlich“, „gesund“ und „moralisch richtig“. Konkret geht es vor allem um folgende, mehrheitlich offenkundig als selbstverständlich erachtete Zusammenhänge:
A Weil der Veganismus natürlich ist, ist er gesund. („Alles Natürliche ist auch gesund.“)
B Weil der Veganismus gesund ist, ist er natürlich. („Alles Gesunde ist auch natürlich.“)
C Weil der Veganismus moralisch richtig ist, ist er natürlich. („Alles moralisch Richtige ist auch natürlich.“)
D Weil der Veganismus moralisch richtig ist, ist er auch gesund. („Alles moralisch Richtige ist auch gesund.“)
Nun läßt sich mühelos zeigen, daß es diese prinzipiellen Zusammenhänge überhaupt nicht gibt:
Zu A: Es gibt jede Menge natürlicher Substanzen, die nicht nur nicht gesund, sondern schlicht tödlich sind. Und dreißig Schwangerschaften wären für Frauen gewiß natürlich, aber sicher nicht besonders gesund.
Zu B: Viele Medikamente und Operationen sind bei bestimmten Krankheiten und Unfällen gewiß gesund, weil lebensrettend, aber, wie ein Blick in ein Chemielabor oder in einen Operationssaal zeigt, alles andere als natürlich.
Zu C: Es ist bestimmt richtig, Menschen mit solchen Medikamenten und Operationen das Leben zu retten, obwohl, wie gesagt, überhaupt nicht natürlich.
Zu D: Es ist gewiß richtig, jemanden aus einem brennenden Haus zu retten, aber keineswegs immer „gesund“ – weil man dabei selber leicht in den Flammen umkommt.
Der naheliegende, aber dennoch meist übersehene Punkt ist schlicht: Ob etwas moralisch richtig ist, hängt nicht davon ab, ob es natürlich oder gesund ist, sondern ob es mit unseren moralischen Grundsätzen überinstimmt. Und die finden wir weder im steinzeitlichen Urwald noch im hochmodernen Operationssaal – weil sie das Ergebnis ethischer Überlegungen und moralischer Bekenntnisse sind. Etwa der Grundsatz, daß wir willkürliche Diskriminierungen aufgrund moralisch belangloser Merkmale wie Beschaffenheit der Behaarung oder Anzahl der Beine vermeiden und die Wehrlosigkeit anderer nicht ausnützen sollen.
Aber auch ein biologisches Faktum gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen: Aus der gegenwärtigen Verträglichkeit einer Substanz, also etwa der Milch anderer Spezies, folgt weder, daß es für uns „natürlich“ ist, diese zu verzehren, noch, daß wir dies „schon immer“ getan haben. Vielmehr zeigt diese Verträglichkeit (die bei der Milch übrigens oft NICHT gegeben ist) lediglich, daß sich unser Körper an diese Substanz gewöhnt hat.
Unser Organismus fragt nämlich weder nach der „Natürlichkeit“ oder „Richtigkeit“ von Stoffen, sondern richtet sich schlicht nach dem, was er bekommen kann. Und wenn das über viele Generationen die Milch anderer Spezies ist, dann wird er mit der Zeit auch damit irgendwie fertig. Würden wir uns über Generationen von kleinen Kindern ernähren, wäre das unsere „natürliche“ Ernährung.
Die moralische Richtigkeit des Veganismus ergibt sich, wie gesagt, aus seiner Übereinstimmung mit unseren moralischen Überzeugungen: Wenn wir der Auffassung sind, daß wir Tiere schützen und ihre Rechte respektieren sollen, dann dürfen wir sie nicht aufessen – weder im Ganzen noch in Teilen.