Ist es möglich, Menschen moralisch zu machen?
Helmut F. Kaplan
Die Fragen in der Ethik und um die Ethik sind vielfältig und fundamental: Welche Werte und Regeln sind „richtig“? Wie können wir das erkennen oder begründen? Wie bringen wir die Menschen dazu, diese Werte und Regeln zu verwirklichen? Und bei all dem geht es um nichts Geringeres als um die Kernfrage des handelnden Menschen überhaupt: Was soll ich tun?
Das größte Problem in diesem Zusammenhang sind freilich die Menschen, die den Sinn der Frage „Was soll ich tun?“ gar nicht begreifen, weil für sie in Wirklichkeit nur die Frage „Was möchte ich tun?“ existiert. Mit anderen Worten: Das wirkliche Problem sind jene Menschen, die die Frage „Was soll ich tun?“ nicht verstehen können, weil es ihnen von vornherein, immer und ausschließlich um sich selbst und um den eigenen Vorteil geht.
Ich wage keinen Prozentsatz zu nennen, aber ich fürchte, daß wir es bei sehr vielen, wenn nicht bei den meisten Menschen mit solchen „moralischen Analphabeten“ oder „moralisch Blinden“ zu tun haben. Das ist das Problem! Moralische Argumente kommen meist zu spät, greifen zu kurz bzw. gehen ins Leere: Was nützt es, dem rohen Schlächter, der gerade seinem blutigen Handwerk nachgeht, mit moralischen Argumenten zu kommen? Er wird uns – im günstigsten Falle! – auslachen!
Die alles entscheidende Frage lautet: Hat bei diesem Menschen je so etwas wie eine Erziehung zum Frieden, eine Schulung zur Friedfertigkeit, eine Hinführung zum Gutsein stattgefunden? Ist hier je ein moralisches Sensorium entwickelt worden, das man ansprechen, an das man appellieren kann? „Nicht die Atombombe ist das Problem“, sagte Albert Einstein, „sondern das Herz des Menschen“. Das moralische Hauptproblem ist der Mangel an moralischer Motivation, der Mangel an Ehrgeiz, moralisch, gut zu sein.
Kann man aber Menschen zur Moral, zum Gut-Sein oder wenigstens zum Gut-sein-Wollen überhaupt erziehen? Einen Hoffnungsschimmer gibt es immerhin – wenngleich einen paradoxen: beeinflußbar ist sie, die Motivation zur Moral, eine Erziehung zum Unfrieden ist zweifellos möglich. Wenn aber eine negative moralische Formung des Menschen möglich ist, dann könnten auch positive Beeinflussungsversuche Chancen auf Erfolg haben.
Bevor wir uns den Erfolgen der Erziehung zum Unfrieden zuwenden, um daraus Hoffnung zu schöpfen, daß dieser Prozeß auch umkehrbar ist, aber eine Klarstellung: Es wird hier in keiner Weise der Anspruch erhoben, ein Problem zu lösen, sondern lediglich der Versuch unternommen, auf ein Problem hinzuweisen. Auf das Problem eben, daß viele Menschen moralisch gar nicht ansprechbar sind, weil ihnen jeglicher „moralische Sinn“ fehlt.
Wie uns unsere bluttriefende Geschichte mit schauerlicher Deutlichkeit vor Augen führt, bereitet es kaum Schwierigkeiten, Menschen zu Mördern zu machen. Es müssen lediglich die Rahmenbedingungen „stimmen“ – Autoritätshörigkeit und Gruppendruck zum Beispiel. Das Erstaunliche und zugleich Erschreckende dabei ist, daß sich diese Wandlung zum Mörder auch an ganz normalen Menschen vollzieht. Es bedarf dazu keineswegs besonders „primitiver“ oder gar „sadistischer“ Personen. Vielmehr sind es „Menschen wie Du und ich“, die sich binnen kürzester Zeit zu hemmungslosen Henkern verwandeln.
Und wenn durch die „richtigen“ situativen Bedingungen erst einmal anfängliche Hemmungen und Widerstände überwunden sind, scheint es für die Mordmaschinen in Menschengestalt auch kein Halt mehr zu geben. Nicht wenige entwickeln beim Umbringen sogar einen unübersehbaren Eifer und Fleiß. Der amerikanische Holocaust-Forscher Christopher R. Browning hat diese Entwicklung vom ganz normalen, völlig unauffälligen Menschen zum gefährlichen Massenmörder mit beklemmender Eindringlichkeit beschrieben.
So groß die negative Formbarkeit des Menschen auch immer sein mag – die für Folter, Mord und Totschlag Zuständigen wollten sich auf die mehr oder weniger spontane Verrohung ihrer menschlichen Werkzeuge alleine nie verlassen. Vielmehr erschien ihnen eine systematische Erziehung zur Unmenschlichkeit unabdingbar – zum Beispiel mittels Militärdienst.
Herbert Begemann 1 verweist zu Recht auf die unleugbare, aber kaum beachtete Tatsache, daß die „charakterlichen Zielvorstellungen“ des Militärdienstes den „zivilen Erziehungszielen“ diametral zuwiderlaufen. Da ist zunächst einmal der unbedingte Gehorsam, eine unerläßliche Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren eines Heeres. Befehle müssen verläßlich und unverzüglich ausgeführt werden. Da bleibt für moralische und sonstige Überlegungen kein Raum. Typische Aussage eines Söldners: „Gefährlich ist es, wenn du nachdenkst. Daß die Gegner auch Kinder haben, daß hier nicht die Guten und dort die Bösen sind …“ 2
Vor allem aber muß der Soldat lernen, Menschen umzubringen – eine Tatsache, die beim permanenten Geschwafel vom „Bürger in Uniform“ leicht in Vergessenheit gerät. Auch bei diesem Lernziel ist der haarsträubende Widerspruch zu zivilen Erziehungsidealen unschwer zu erkennen.
Wozu diese „soldatischen Tugenden“ führen, ist ebenfalls kein Geheimnis: Neben den „normalen“ und gewollten Verbrechen, die jeder Krieg mit sich bringt bzw. aus denen er besteht, kommt es immer wieder auch zu dem, was man irreführenderweise als „Kriegsverbrechen“ bezeichnet. Als Beispiel sei das Massaker genannt, das der amerikanische Leutnant Calley im südvietnamesischen Dorf My-Lai veranstaltete. Calley über das, was ihm während seines Militärdienstes beigebracht wurde:
„Wir lernten auch etwas, was wir zwanzig Jahre lang für verabscheuungswürdig gehalten hatten: töten. Ein Feldwebel in Turnhosen und Turnhemd brachte es uns bei.“ – „Denn das ist die Armee: ein Messer, das schön scharf bleiben muß, damit das amerikanische Volk es benützen kann. Wenn das Volk sagt: ‚Los, mach Südamerika dem Erdboden gleich‘, dann wird´s die Armee tun. Eben Mehrheitsbeschlüsse, und wenn eine Mehrheit zu mir sagt: ‚Gehe nach Südvietnam‘, gehe ich auch. Und wenn sie mir sagt: ‚Leutnant Calley …, los, massakrieren Sie tausend Kommunisten‘, werde ich tausend Kommunisten massakrieren. ( … ) … ich mache das, was mir gesagt wird.“ 3
So weitreichend und verheerend die Folgen der „normalen“ militärischen Ausbildung auch sind – darin erschöpfen sich die Anstrengungen, Menschen zu Monstern zu machen, keineswegs. Da sind zum Beispiel noch die Berufsfolterer zu nennen, die einen weiteren eindrucksvollen Beweis für die negative psychische Wandlungsfähigkeit des Menschen liefern. Folter wird in aller Regel nicht von besonders sadistischen Menschen in „spontanen“ Akten praktiziert, sondern von speziell geschulten Folterern. Diese Ausbildung ist zwar aufwendig, dafür aber umso erfolgreicher. Unter anderem werden den angehenden Folterern systematisch alle Mitleids- und Solidaritätsreaktionen abtrainiert:
„Zum Beispiel wird das Maskottchen-Kaninchen einer Ausbildungsgruppe zerrissen. Dann sieht man einen Film, in dem einem Menschen das Ohr umgedreht wird. Die nächste Stufe ist: Es kommt ein Mensch, dem das Ohr umgedreht wird. Danach kommt einer, dem das Ohr abgeschnitten wird. Die letzte Stufe ist, daß der Rekrut selbst jemandem ein Ohr abschneiden soll.“ 4
Besonders wirksam ist die Schulung zum Folterer, wenn sie an Kindern erfolgt. Diese
„Ausbildung geht im letzten Stadium sogar so weit, daß unter Aufsicht manchmal eigene Familienangehörige gefoltert werden müssen. Damit kommt es zu einer Loslösung der Persönlichkeit von ihren Ursprüngen. Der Mensch ist dann völlig isoliert und seelisch nur noch an die neuen Machthaber gebunden.“ 5
Wie man sieht: Bei der Erziehung zum Foltern und Morden hat man sich einiges einfallen lassen. Diese „pädagogische Arbeit“ kann sich sehen lassen. Die Erfolge bei der negativen Formung des Menschen geben aber auch, wie gesagt, Anlaß zur Hoffnung: Wenn die Erziehung zum Unmenschen so effizient betrieben werden kann, dann müßte doch auch die Erziehung zum Menschen, zum moralisch denkenden und handelnden Menschen, möglich sein.
Wie könnte eine solche Erziehung zum Frieden, zur Friedfertigkeit, zur Moral aussehen? Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als einfach. Nicht zuletzt deshalb, weil wir uns mit der Erziehung zum Frieden erst zu beschäftigen begonnen haben, als uns die Erziehung zum Krieg bereits an den Rand des Abgrundes geführt hat. Aufgrund eigener bescheidenster Kenntnisse in bezug auf das weite und vielschichtige Gebiet der Friedensforschung halte ich die Aggressionsforschung für einen Ansatz, der möglicherweise imstande wäre, die Moralisierung des Menschen methodisch in den Griff zu bekommen.
Ich persönlich habe aber offengestanden kaum Hoffnung, daß der beschriebene Prozeß der Erziehung zum Unfrieden auch in umgekehrter Richtung nennenswerte Erfolge zeitigen könnte. So wie beim Bergsteigen der Abstieg ungleich leichter und rascher erfolgt als der Aufstieg, so ist auch die Entwicklung zum Unmenschen und zur Unmoral ungleich einfacher als der umgekehrte Weg.
Natürlich gibt es auch optimistischere Sichtweisen. Und mit einer solchen möchte ich den Leser entlassen. Mag die folgende Betrachtung Bertrand Russells6 als „Programm für die Menschheit“ auch unrealistisch sein – vielleicht macht sie manchem Mut, selbst gut zu sein:
„Mag ich mir auch den Weg in eine Welt freier und glücklicher menschlicher Wesen kürzer vorgestellt haben, als er in Wirklichkeit ist, war es doch kein Irrtum, zu glauben, daß eine solche Welt möglich wäre und daß es dafürsteht, mit der Absicht zu leben, sie näherzubringen. Ich lebte in der Verfolgung einer Vision, persönlich wie sozial: Sich um das zu sorgen, was edel, schön und gütig ist … – das war die persönliche Vision. Die soziale Vision: sich vorzustellen, welche Gesellschaft zu schaffen wäre, eine Gesellschaft nämlich, in der Individuen in Freiheit heranwachsen und wo Haß, Gier und Neid aussterben, weil man ihnen keine Nahrung gibt. Das ist es, woran ich glaube, und trotz all ihrer Greuel ließ mich die Welt unerschüttert.“
1 Ärztliche Ethik im Widerspruch zur staatlichen Machtpolitik. In: Rudolf Steinmetz (Hrsg.): Das Erbe des Sokrates. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1986, S. 76.
2 Krieg macht süchtig, Focus, 9, 1995.
3 Zitiert nach Begemann, a. a. O., S. 77 f.
4 Schulen der Bestialität, Der Spiegel, 27, 1994, S. 124-126.
5 Ebenda, S. 126.
6 Zitiert nach Roger Williamson: Bertrand Russell. In: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.): Liebhaber des Friedens. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1989, S. 49 f.