Mitleid und Moral
Helmut F. Kaplan
Die Bedeutung des Mitleids für moralisches Handeln ist so fundamental, daß Mitleid und Moral sogar gleichgesetzt wurden: „Ethik ist Mitleid“, schreibt Albert Schweitzer. „Alles Leben ist Leiden. Der wissend gewordene Wille zum Leben ist also von tiefem Mitleid mit allen Geschöpfen ergriffen.“1
Für Schopenhauer ist Mitleid die Grundlage der Moral und die Triebfeder für moralisches Handeln. Um dies zu erkennen, sollten wir uns, so Schopenhauer, folgendes vorstellen:
Kajus und Titus sind zwei leidenschaftlich verliebte junge Männer. Beide sind in ein anderes Mädchen verliebt und haben jeweils einen Nebenbuhler, der von ihrer jeweiligen Angebeteten aufgrund äußerer Umstände bevorzugt wird. Also beschließen Kajus und Titus, ihre Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, also umzubringen. Dabei sind sie nicht nur vor jeder Entdeckung, sondern sogar vor jeglichem Verdacht absolut sicher. Als sie jedoch die näheren Vorbereitungen für die Morde treffen, sehen schließlich beide nach innerem Ringen von der Tat ab.
„Nun soll die Rechenschaft, welche Kajus giebt, ganz in die Wahl des Lesers gestellt seyn. Er mag etwan durch religiöse Gründe, wie den Willen Gottes, die dereinstige Vergeltung, das künftige Gericht u. dgl. abgehalten worden seyn. Oder aber er sage: ‚Ich bedachte, daß die Maxime meines Verfahrens in diesem Fall sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein gültige Regel für alle möglichen vernünftigen Wesen abzugeben ….‘ ( … ) – Oder er sage, nach Wollastone: ‚Ich habe überlegt, daß jene Handlung der Ausdruck eines unwahren Satzes seyn würde.‘ ( … ) – Oder er sage, nach Adam Smith: ‚Ich sah voraus, daß meine Handlung gar keine Sympathie mit mir in den Zuschauern derselben erregt haben würde.‘ – Oder, nach Christian Wolf: ‚Ich erkannte, daß ich dadurch meiner eigenen Vervollkommnung entgegen arbeiten und auch keine fremde befördern würde.‘ ( … ) – Kurz, er sage, was man will. – Aber Titus, dessen Rechenschaft ich mir vorbehalte, der sage: ‚Wie es zu den Anstalten kam, und ich deshalb, für den Augenblick, mich nicht mit meiner Leidenschaft, sondern mit jenem Nebenbuhler zu beschäftigen hatte; da zuerst wurde mir recht deutlich, was jetzt mit ihm eigentlich vorgehn sollte. Aber nun ergriff mich Mitleid und Erbarmen, es jammerte mich seiner, ich konnte es nicht über´s Herz bringen: ich habe es nicht thun können.‘ – Jetzt frage ich jeden redlichen und unbefangenen Leser: Welcher von Beiden ist der bessere Mensch? – Welchem von Beiden möchte er sein eigenes Schicksal lieber in die Hand geben? – Welcher von ihnen ist durch das reinere Motiv zurückgehalten worden? – Wo liegt demnach das Fundament der Moral? ( … )
Nichts empört so im tiefsten Grunde unser moralisches Gefühl, wie Grausamkeit. Jedes andere Verbrechen können wir verzeihen, nur Grausamkeit nicht. Der Grund hievon ist, daß Grausamkeit das gerade Gegentheil des Mitleids ist.“ 2
Wenn wir, so Schopenhauer weiter, von sehr grausamen Taten erfahren, etwa daß eine Mutter ihre kleinen Kinder dadurch umbrachte, daß sie dem einen siedendes Öl einflößte und das andere lebendig begrub, dann packt uns Entsetzen und wir rufen aus: Wie ist es möglich, so etwas zu tun?
„Was ist der Sinn dieser Frage? Ist er vielleicht: wie ist es möglich, die Strafen des künftigen Lebens so wenig zu fürchten? – Schwerlich. – Oder: Wie ist es möglich, nach einer Maxime zu handeln, die so gar nicht geeignet ist, ein allgemeines Gesetz für alle vernünftigen Wesen zu werden? – Gewiß nicht. – Oder: Wie ist es möglich, seine eigene und die fremde Vollkommenheit so sehr zu vernachlässigen? – Eben so wenig. – Der Sinn jener Frage ist ganz gewiß bloß dieser: Wie ist es möglich, so ganz ohne Mitleid zu seyn? – Also ist es der größte Mangel an Mitleid, der einer That den Stämpel der tiefsten moralischen Verworfenheit und Abscheulichkeit aufdrückt. Folglich ist Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder. ( … )
Gränzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten …. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinen beinträchtigen, Keinem wehe thun, vielmehr mit Jedem Nachsicht haben, Jedem verzeihen, Jedem helfen, so viel er vermag …. Hingegen versuche man ein Mal zu sagen: ‚Dieser Mensch ist tugendhaft, aber er kennt kein Mitleid.‘ Oder: ‚Es ist ein ungerechter und boshafter Mensch; jedoch ist er sehr mitleidig‘; so wird der Widerspruch fühlbar.“ 3
Mitleid ist also die Grundlage und Triebfeder der Moral. Einer umfassenden Moral übrigens: Wie Albert Schweitzer, so weist auch Arthur Schopenhauer darauf hin, daß echtes Mitleid nicht an der menschlichen Artgrenze haltmacht. Und zur Mobilisierung des Mitleids bedarf es keiner ethischen Theorien, sondern vielmehr anschaulicher Fakten.
Mitleid ist die Triebfeder moralischen Handelns, und Fakten sind die Voraussetzung für die Erweckung von Mitleid. Daher ist das Offensein für die Fakten, das Offensein für die Realität, das Offensein für die Realität des Leidens die erste und wichtigste Grundlage moralischen Handelns.
Wer ehrlich ist, wird auch moralisch sein: Wenn wir die Wirklichkeit nicht verdrängen, sondern dem uns umgebenden Leiden – bildlich und buchstäblich – ehrlich in die Augen sehen, dann werden wir auch richtig handeln.
Aber, so gibt Schopenhauer andererseits auch zu bedenken:
„Obwohl Grundsätze und abstrakte Erkenntniß überhaupt keineswegs die … erste Grundlage der Moralität sind; so sind sie doch zu einem moralischen Lebenswandel unentbehrlich, als das Behältniß …, in welchem die aus der Quelle aller Moralität … entsprungene Gesinnung aufbewahrt wird, um, wenn der Fall der Anwendung kommt, durch Ableitungskanäle dahin zu fließen. ( … ) Ohne fest gefaßte Grundsätze würden wir den antimoralischen Triebfedern … unwiderstehlich Preis gegeben seyn.“ 4
Es bedarf also neben der Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber dem uns umgebenden Leiden auch noch einer moralischen Maxime, die die Energie des Mitleids für Situationen „konserviert“, in denen die unmittelbare Wirkung des Mitleids nicht zum Tragen kommt.
Zum moralischen Handeln bedarf es also sowohl der emotionalen Motivation in Form des Mitleids als auch einer rationalen Motivation in Form einer moralischen Regel. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß die emotionalen und rationalen Anstöße zum moralischen Handeln gleichzeitig wirken:
„Daher, wenn etwan, in einzelnen Fällen, die erwählte Maxime der Gerechtigkeit wankt, … zur Belebung der gerechten Vorsätze, kein Motiv … wirksamer ist, als das aus der Urquelle selbst, dem Mitleid, geschöpfte. … z. B. wenn Jemand eine gefundene Sache von Werth zu behalten Lust spürt; so wird … nichts ihn so leicht auf die Bahn der Gerechtigkeit zurückbringen, wie die Vorstellung der Sorge … und der Wehklage des Verlierers. Im Gefühl dieser Wahrheit geschieht es oft, daß dem öffentlichen Aufruf zur Wiederbringung verlorenen Geldes die Versicherung hinzugefügt wird, der Verlierer sei ein armer Mensch.“ 5
Rekapitulieren wir: Neben dem Mitleid bedarf es auch noch einer Maxime, die die Energie des Mitleids für Situationen „konserviert“, in denen die unmittelbare Wirkung des Mitleids nicht oder nicht ausreichend zum Tragen kommt.
Welche moralische Regel wäre aber nun geeignet, die ursprüngliche, emotionale Kraft des Mitleids zu „konservieren“, zu „binden“? Welche Maxime könnte das Mitleid auf der Verstandesebene angemessen repräsentieren?
Hierfür scheint jene Regel geradezu prädestiniert zu sein, die im altindischen Nationalepos Mahabharata als Summe der Gerechtigkeit, von Charles Darwin als Grundlage der Sittlichkeit und von Erik H. Erikson als geheimnisvoller Treffpunkt alter Völker bezeichnet wird – die Goldene Regel: „Was du nicht willst, daß man dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu.“ Oder: „Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt sein willst.“
Die Goldene Regel finden wir sowohl in der hinduistischen und chinesischen als auch in der jüdischen, christlichen und islamischen Ethik. Ihre Verbreitung und Anerkennung kennt offenbar weder zeitliche noch örtliche Grenzen. Die Wertschätzung, der sich die Goldene Regel erfreut, beruht zum Teil wohl auch auf ihrem Vorkommen im Neuen Testament sowie auf ihrer Ähnlichkeit zum Gebot „Liebe dei nen Nächsten wie dich selbst“.
Kritisiert wird an der Goldenen Regel allerdings immer wieder, daß sie nicht berücksichtige, daß unterschiedliche Menschen unterschiedliche Interessen haben. Dies führe, so der Vorwurf, dazu, daß die Befolgung der Goldenen Regel mitunter absurde Konsequenzen habe:
„Wörtlich genommen, fordert die Regel einen Masochisten auf, ein Sadist zu werden: jemandem, der gerne von anderen gequält werden möchte, wird befohlen, andere zu quälen.“ 6
„Wer zu stolz ist, sich helfen zu lassen, dürfte anderen nicht helfen.“ 7
„Der Abstinenzler könnte voller Freude universal vorschreiben, niemand solle Wein oder Bier trinken.“ 8
Zu dem Einwand, daß die Goldene Regel nicht berücksichtige, daß die Menschen unterschiedliche Interessen und Wünsche haben, ist folgendes zu sagen: Erstens unterscheiden sich die Menschen im Hinblick auf die grundlegenden Interessen und Wünsche kaum von einander: Wer will schon belogen, betrogen, beleidigt oder gequält werden! Der Masochist ist ohne Zweifel eine Ausnahme.
Zweitens und vor allem aber: Wo sich die Menschen in ihren Interessen und Wünschen unterscheiden, da berücksichtigen wir dies bei der Anwendung der Goldenen Regel ohnehin automatisch, da alles andere dem Geist der Goldenen Regel aufs gröbste widerspräche!
Vor die Frage gestellt, ob ich einem Behinderten beim Überqueren der Straße behilflich sein sollte, ist mein Gedankengang doch nicht: Da ich selbst nicht behindert bin, und so weiter, sondern: Wenn ich jetzt an seiner Stelle wäre, würde ich mir wünschen, daß mir geholfen wird.
Oder: Wenn ich jemandem mit einer Einladung zum Essen eine Freude bereiten möchte, serviere ich natürlich nicht meine, sondern seine Lieblingsspeise!
Kurz: Bei der Anwendung der Goldenen Regel geht es selbstverständlich nicht darum, dem anderen die eigenen Wünsche aufzuzwingen, sondern darum, die Wünsche des anderen zu berücksichtigen. Sinnvoll und akzeptabel ist deshalb nur jenes Verständnis der Goldenen Regel, bei dem man
„seinen Mitmenschen nicht seine eigenen, sondern ihre eigenen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse unterstellt. ( … ) Die Frage darf also nicht lauten: ‚Wie würde ich, mit all meinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?‘, sondern vielmehr: ‚Wie würde ich, mit all seinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?'“ 9
Folgerichtig schlägt Hans-Ulrich Hoche folgende Fassung der Goldenen Regel vor: „Behandle jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“ 10
Diese Maxime und das oben geforderte Mitleid scheinen mir für alle, die moralisch handeln wollen, das wirksamste Mittel zu sein, um diese Welt zu einem glücklicheren oder wenigstens zu einem erträglicheren Ort zu machen.
Anmerkungen:
1Albert Schweitzer: Gesammelte Werke in 5 Bänden. München: Beck, o. J, Bd. II, S. 295, zit. n. Gotthard M. Teutsch: Mensch und Tier: Lexikon der Tierschutzethik. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1987, S.140).
2Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral [1840]. Zürcher Ausgabe in 10 Bänden. Zürich: Diogenes, 1977, Bd. VI, S. 271 f.
3Ebenda, S. 272-275.
4Ebenda, S. 254.
5Ebenda, S. 255.
6Marcus G. Singer: Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt: Suhrkamp, 1975, S. 37.
7Otfried Höffe: Goldene Regel. In: ders. (Hg.): Lexikon der Ethik. München, C. H. Beck, 1986, S. 93.
8John L. Mackie: Ethik. Stuttgart: Reclam, 1983, S. 113.
9Hans-Ulrich Hoche: Die Goldene Regel, Zeitschrift für Philosophische Forschung,32, 1978, S. 361.
10Ebenda, S. 358.