Tierrechte: Gegengift zum christlichen Glaubensgift
Helmut F. Kaplan
Ich habe immer wieder betont, daß für eine erfolgreiche Tierrechtsarbeit beide Seiten wichtig sind: Praxis und Ethik, Fakten und Philosophie, Aktionen und Argumente, Bilder und Begründungen. Dabei neigte ich persönlich eher der Auffassung zu, daß die praktische Seite schlußendlich die entscheidende ist: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte!
In letzter Zeit werde ich mir diesbezüglich immer unsicherer. Denn im Fernsehen laufen mittlerweile dauernd Filme, die diese praktische Seite voll abdecken, aber Bewußtseinsänderungen in Richtung Tierrechte sind dennoch kaum zu erkennen.
Da sieht man etwa gutgelaunte Menschen, die gerade in ihrem Lieblingslokal ihr Lieblingsgericht, z. B. Gans, verspeisen. Es folgt ein Bericht darüber, wie diese Tiere aufwachsen, samt Interview mit den Menschen, die sie füttern usw. Nicht selten wird man anschließend auch noch Zeuge der Tötung dieser Tiere.
Sicher: Solche Filme sind nicht aus Tierrechtsperspektive konzipiert. Aber in bezug auf die grundlegenden Fakten und Zusammenhänge lassen sie nichts zu wünschen übrig. Und dennoch haben diese Berichte ganz offenkundig kaum eine bewußtseinsändernde oder gar abschreckende Wirkung. Im Gegenteil: Der „mündige Konsument“ zeigt sich dankbar und erfreut, so ausführlich und sachlich über die Herkunft der Leichen auf seinem Teller informiert zu werden.
Da erhebt sich natürlich die Frage nach der Ursache für dieses bedenkliche Phänomen. Die Antwort lautet wohl: Durch die jahrtausendelange christliche Verdummung, Indoktrination und systematische Abstumpfung gegenüber dem Leiden der Tiere sind die Menschen gar nicht mehr fähig, die dargestellten Greuel gegenüber Tieren intellektuell und emotional zu erfassen. Es fehlt ihnen schlicht am Wahrnehmungsvermögen für die an Tieren begangenen Verbrechen.
Wenn dies aber so ist, dann gilt es, diese Wahrnehmungsfähigkeit für das Unrecht gegenüber Tieren wiederherzustellen. Und dabei spielt die Ethik eine wichtige Rolle:
Bernard E. Rollin weist auf das Phänomen des „Gestaltwandels“ hin. Damit ist eine radikale Veränderung der Perspektive bei gleichbleibenden Fakten gemeint. Ein solcher Gestaltwandel liegt etwa vor, wenn wir einen Menschen plötzlich „in einem ganz anderen Licht“ sehen – zum Beispiel, wenn wir uns verlieben: Auf einmal ist das Mädchen aus der Nachbarschaft, das ich schon tausendmal zuvor gesehen habe, unglaublich begehrenswert. Dieselbe Person, dieselben „Fakten“ werden plötzlich auf eine neue, ganz andere Weise wahrgenommen. (Auf einer „harmloseren“ Ebene läßt sich das Phänomen des Gestaltwandels auch bei den aus der Psychologie bekannten „Umspringbildern“ beobachten.)
Solche Gestaltwandlungen gibt es nun auch im moralischen Bereich. Als Beispiel nennt Rollin die Einsicht, daß wir auch gegenüber Tieren moralische Pflichten haben, daß also auch Tiere jener Sphäre angehören, innerhalb deren unsere moralischen Rücksichten und Regeln gelten bzw. gelten sollten – während wir Tiere bisher vielleicht ausschließlich als Nutzobjekte für den Menschen betrachteten. Diese neue Erkenntnis kann etwa dadurch ausgelöst werden, daß einem Jäger plötzlich klar wird, daß er nicht einen harmlosen Sport ausübt, sondern vielmehr zum Vergnügen unschguldige, leidensfähige Lebewesen umbringt. Der Gestaltwandel kann auch dadurch bewirkt werden, daß der Jäger die Laute, die die verwundeten Tiere von sich geben, erstmals als Schreie wahrnimmt. Stets führen nicht neue Fakten, sondern das Wahrnehmen bekannter Fakten „in neuem Licht“ zum Sinneswandel.
Und bei der Vorbereitung und Herbeiführung von solchen moralischen Gestaltwandlungen spielt die Ethik eine herausragende Rolle. Zwar kann man, wie Rollin richtig bemerkt, keinen Menschen in eine bestimmte Moral „hineinargumentieren“ – sowenig man jemanden in eine bestimmte Religion „hineinargumentieren“ kann. Aber ethische Argumente können sehr wohl den Boden für solche fundamentalen moralischen Gestaltwandlungen bereiten, sie können Samen säen, die später neue moralische Sichtweisen bewirken.
Und deshalb dürfen wir die Philosophie und Ethik der Tierrechtsbewegung keineswegs vernachlässigen. Das sei vor allem jenen ins Stammbuch geschrieben, die schon bisher „den ganzen philosophischen Kram“ als überflüssig erachtet und beiseite geschoben haben. Es gilt, in Erinnerung zu rufen und zu berücksichtigen, daß alle politischen Bewegungen philosophische Fundamente hatten und haben. Wer dies vergißt oder verleugnet, fügt der Tierrechtsbewegung großen Schaden zu, weil er ihr ihre geistige Grundlage entzieht.
Wie wirksam solche geistigen Grundlagen sind, kann man am Negativbeispiel Christentum samt seinen Folgephilosophien erkennen: Diese Thesen, Theorien und Konzepte sind dafür verantwortlich, daß die Menschen das Augenscheinlichste nicht mehr sehen und das Naheliegendste nicht mehr begreifen: daß Tiere moralisch bedeutsame Wesen sind.
Das christliche Glaubensgift bedarf des Gegengiftes einer aufgeklärten Philosophie der Tierrechtsbewegung.