Tierrechte und Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung I

Veröffentlicht in: Unkategorisiert | 0

Tierrechte und Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung I

Peter Singer über Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung

Vorbemerkung

Diskussionen über Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung im Zusammenhang mit Tierrechten leiden häufig an einer schmerzlichen und schädlichen perspektivischen Schieflage. Diese soll durch die folgende zusammenfassende Darstellung von Peter Singers einschlägigen Darlegungen korrigiert werden. Die angeführten Seitenangaben beziehen sich auf folgende Quelle: Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam, 2., revidierte und erweiterte Auflage 1994. Helmut F. Kaplan

Zwecke und Mittel

Müssen wir immer den Gesetzen gehorchen? Oskar Schindler, Mitglieder der Animal Liberation Front (ALF) und viele Umweltschützer haben Gesetze gebrochen. Haben sie alle unrecht gehandelt? Diese Frage läßt sich nicht mittels Berufung auf die Formel „Der Zweck heiligt nie die Mittel“ beantworten. Denn außer für strikteste Anhänger einer Regelmoral heiligt der Zweck zuweilen sehr wohl die Mittel. So halten etwa die meisten Menschen Lügen grundsätzlich für falsch, gestehen aber zu, daß Lügen manchmal auch angebracht sein kann – etwa, um unnötigen Anstoß oder Ärger zu vermeiden, zum Beispiel, wenn mir ein wohlmeinender Verwandter eine scheußliche Vase zum Geburtstag schenkt und mich fragt, ob sie mir gefalle. Wenn aber schon ein solch vergleichsweise trivialer Zweck eine Lüge rechtfertigen kann, dann trifft dies naturgemäß bei viel wichtigeren Zwecken – etwa einen Mord zu verhindern oder Tiere vor großem Leiden zu bewahren – umso mehr zu. Die entscheidende Frage lautet daher nicht, „ob der Zweck jemals die Mittel rechtfertigen kann, sondern welche Mittel sich durch welchen Zweck rechtfertigen lassen.“ (S. 369 f.)

Gewissen und Gesetz

Sind wir verpflichtet, Gesetze zu befolgen, die Dinge schützen und gutheißen, die wir für völlig falsch halten? So formuliert, ist die Frage irreführend. Denn was wir wissen müßten, ist nicht, ob wir das tun sollen, was wir für richtig halten, sondern, wie wir feststellen können, was richtig ist. „Es geht um die Unsicherheit, was zu tun richtig ist, nicht um die Unsicherheit, ob man tun muß, wofür man sich als richtig entschieden hat.“ Dieser Punkt kann durch Formeln wie, man müsse einfach immer seinem Gewissen folgen, verdunkelt werden.

Denn die einen meinen damit einfach, daß man immer tun soll, was man nach reiflicher Überlegung für richtig hält, andere, daß man seiner „inneren Stimme“ folgen sollte. Aber das, was uns diese „innere Stimme“ sagt, weicht oft erheblich vom Ergebnis ab, zu dem wir aufgrund reiflicher Überlegung gelangen. Wenn wir dann dennoch dieser „inneren Stimme“ folgen, so bedeutet dies, unserer Verantwortung als rational Handelnde abzuschwören. Unsere „innere Stimme“ ist oft eher das Produkt unserer Erziehung und Ausbildung als eine Quelle echter moralischer Einsicht.

Gegen das Gesetz zu handeln, ist nicht immer falsch, zum Beispiel Juden vor Nazis zu vestecken, auch wenn es gegen das Gesetz ist. Gesetz und Ethik sind einfach zwei verschiedene Dinge – was nicht bedeutet, daß das Gesetz kein moralisches Gewicht hätte. (S. 370 – 374)

Gesetz und Ordnung

Der Mensch ist zwar auf ein Zusammenleben ausgerichtet, aber dennoch müssen wir uns vor dem Risiko schützen, von unseren Mitmenschen angegriffen oder getötet zu werden. Deshalb ist es wünschenswert, „ein feststehendes, unveränderliches und allgemein bekanntes Gesetz“ (John Locke) zu haben, das zuverlässig eingehalten bzw. umgesetzt wird. Außerdem gibt es in jeder Gesellschaft Streitigkeiten etwa darüber, wieviel Wasser Bauern vom Fluß ableiten dürfen, wie das Land aufgeteilt werden soll, wie hoch die Steuern sein sollen usw. Um solche Streitigkeiten rasch, ökonomisch und gewaltfrei zu schlichten, bedarf es eines festgelegten Entscheidungsverfahrens.

Deshalb sind Gesetze und ein etabliertes Entscheidungsverfahren eine gute Sache. Daraus ergibt sich EIN wichtiger Grund für Gesetzesgehorsam: Ich trage damit zum Respekt bei, der den Gesetzen und dem etablierten Entscheidungsverfahren entgegegebracht wird. Ungehorsamkeit kann hingegen mittels Vorbildwirkung bzw. Vervielfachung zum Niedergang von Gesetz und Ordnung, im Extremfall bis zum Bürgerkrieg führen.

Es kann aber Fälle geben, in denen die Gründe für den Ungehorsam gegenüber einem bestimmten Gesetz schwerer wiegen als die Gründe für den Gesetzesgehorsam. Hier gilt es, in jedem Einzelfall gewissenhaft abzuwägen. Wenn etwa illegale Handlungen der einzige Weg wären, um viele schmerzhafte Tierversuche zu verhindern, bedeutsame unberührte Natur zu retten oder Regierunen zu drängen, ihre Auslandshilfe zu erhöhen, dann wäre es gerechtfertigt, ein gewisses Risiko einzugehen, zu einem Niedergang der Gesetzestreue beizutragen. (S. 374 – 376)

Demokratie

Gegen Gesetzesungehorsam in einer Demokratie könnte eingewendet werden, daß es in einer Demokratie legale Mittel gebe, um Mißstände abzustellen, daher seien illegale Mittel unzulässig. Allerdings ist die Aussicht, mit legalen Mitteln in absehbarer Zukunft Änderungen herbeizuführen, oft sehr gering. Und während Fortschritte auf legalem Weg oft sehr langsam sind oder überhaupt ausbleiben, schreitet das Unrecht, das man bekämpfen will, immer weiter fort. Das Vorhandensein legaler Möglichkeiten bedeutet also keineswegs immer einen Ausweg aus dem moralischen Dilemma.

Hier könnte eingewendet werden: Wenn legale Mittel nicht zur Verwirklichung der gewünschten Reform führen, so zeigt dies nur, daß diese Reform eben nicht die Zustimmung der Mehrheit der Menschen findet. Und diese Reform mit illegalen Mitteln gegen die Mehrheit durchzusetzen, hieße, das zentrale Prinzip der Demokratie, das Mehrheitsprinzip, zu verletzen. Dagegen läßt sich zweierlei anführen:

Faktisch: Daß eine Reform mit legalen Mitteln nicht durchgesetzt werden kann, bedeutet keineswegs notwendig, daß keine Bevölkerungsmehrheit hinter ihr stünde. Das wäre vielleicht in einer direkten Demokratie so, aber nicht in einer repräsentativen: Hier ist keineswegs gesichert, daß die Repräsentanten immer so abstimmen, wie es der Bevölkerungsmehrheit entspricht. Außerdem kann es sein, daß ein bestimmtes Anliegen von überhaupt keiner (großen) politischen Partei vertreten wird.

Philosophisch: Warum soll die Mehrheit unbedingt recht haben? Wenn 49 Prozent der Bevölkerung irren können, dann können auch 51 Prozent der Bevölkerung irren! Wenn wir aber die Lehre, wonach die Mehrheit immer recht hat, verwerfen – was wir müssen -, dann bedeutet, eine moralische Frage per Abstimmung klären zu lassen, letztlich ein Glücksspiel – bei dem man oft verliert.

Nichtsdestotrotz: Wahlen gehören zu den etablierten gesellschaftlichen Schlichtungsverfahren (denen wir oben einen hohen Stellenwert beigemessen haben). Bei demokratischen Wahlen kommt noch ein gewichtiger positiver Aspekt hinzu: Ein Schlichtungsverfahren, bei dem alle eine Stimme haben, läßt sich als fairer Kompromiß zwischen konkurruierenden Machtansprüchen empfehlen. Jede andere Methode muß bestimmten Individuen mehr Macht zugestehen und fordert damit automatisch die Opposition der anderen heraus. Das Mehrheitsprinzip hat also ein ganz besonderes moralisches Gewicht. Deshalb sollten wir es uns in einer Demokratie sehr gut überlegen, bevor wir Dinge tun, die auf den Versuch hinauslaufen, der Mehrheit Zwang anzutun.

Die Pflicht, Mehrheitsbeschlüssen zu gehorchen, ist allerdings nicht absolut. Es kann so entsetzliche Mehrheitsbeschlüsse geben, daß Widerspruch gerechtfertigt ist. Wir erweisen dem Mehrheitsprinzip nicht durch blinden Gehorsam den angemessenen Respekt, „sondern dadurch, daß wir uns nur unter extremen Umständen als zum Ungehorsam berechtigt betrachten.“ (S. 377 – 382)