Macht es noch Sinn, moralisch zu sein?

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Macht es noch Sinn, moralisch zu sein?

Helmut F. Kaplan

Besteht wirklich noch eine reale Chance, die Menschen nachhaltig zu bessern, sie zu moralischen Wesen zu machen? Die objektive Antwort auf diese Frage kennen wir nicht. Deshalb kann man ehrlicherweise nur seine persönliche Meinung äußern. Ich halte die Vorstellung, die Menschen entscheidend zu bessern, letztlich für abwegig. Was kann und soll man schließlich schon von einer Spezies erwarten, die all die unbeschreiblich dummen und grausamen Dinge tut, die Menschen tatsächlich tun – zum Beispiel sogenannte „Schmetterlingsminen“ (Anti-Personen-Minen aus buntem Plastik in Schmetterlingsform) herstellen und vergraben, um damit spielende Kinder in die Luft zu jagen?

Es spricht einfach nichts dafür, daß der Mensch noch einmal zur Vernunft, geschweige denn zur Moral käme. Nach wie vor werden Kriege geführt und nach wie vor wird die Umwelt zerstört, obwohl wir heute, im Gegensatz zu früher, wissen, wozu dies führt und führen kann. Der Mensch hat sich nicht oder kaum, auf alle Fälle zuwenig weiterentwickelt, die Gefährlichkeit seiner Produkte und Werkzeuge aber hat sich vervielfacht. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Wozu dann aber noch irgendwelche individuelle Bemühungen, etwas zu ändern, zu bessern, zu retten? Sind solche Bestrebungen nicht schlicht hirnverbrannt? Für den Umstand, daß wir trotz aller Aussichtslosigkeit weitermachen und an eine Zukunft glauben, gibt es eine simple Erklärung: Wir sind psychologisch gezwungen zu hoffen und an eine Zukunft zu glauben, auch wenn alle Vernunft und alle Fakten dagegen sprechen. Wir sind schlicht unfähig, einzugestehen, daß wir am Ende sind.

Gibt es neben diesen neurotischen Gründen für den Glauben an eine Zukunft auch vernünftige Gründe für einen vorsichtigen Optimismus? Gibt es auch rational nachvollziehbare Überlegungen, die Pläne und Bemühungen im Hinblick auf eine „bessere Welt“ noch als sinnvoll erscheinen lassen könnten? Spricht angesichts des heraufziehenden Endes wirklich noch etwas dafür, engagiert, selbstlos, moralisch zu denken und zu handeln? Vielleicht zweierlei:

Wenn man hochfliegende Hoffnungen auf eine „Verbesserung der Welt“ zeitlich und zahlenmäßig auf ein realistisches Maß reduziert, so erscheinen Bemühungen zur Mehrung des Glücks und zur Verringerung des Leidens durchaus nach wie vor sinnvoll. Denn wenn wir auch nicht die Welt oder die Menschen „retten“ können, so können wir doch sehr wohl einzelnen Menschen helfen, sie glücklich oder zumindest weniger unglücklich machen. Das gleiche gilt für nichtmenschliche, glücks- und leidensfähige Lebewesen, für Tiere. Leiden lindern und Glück fördern sind Werte an sich. Letztlich vielleicht die einzigen Werte überhaupt.

Für eine Veränderung im großen, das heißt für die Abwendung des Weltuntergangs bedürfte es freilich nichts Geringeren als eines Wunders. Denn es spricht, wie gesagt, nichts dafür, daß wir uns nicht umbringen werden. In einer solch aussichtslosen Situation spricht allerdings auch nichts dagegen, auf ein Wunder zu hoffen. Und dabei kann es nicht schaden zu versuchen, dem Wunder etwas nachzuhelfen, es etwas weniger unwahrscheinlich zu machen. Und zwar dadurch, daß wir uns so verhalten, wie es notwendig gewesen wäre, um die jetzige katastrophale Situation erst gar nicht entstehen zu lassen: moralisch, uneigennützig, solidarisch. Wenn mehr Menschen früher stärker moralisch gedacht und gehandelt hätten, dann wären wir heute nicht da, wo wir sind. Und wenn wir nicht unsere letzte Chance verspielen wollen, müssen wir heute, auf ein Wunder hoffend, so handeln, wie es rational, realistisch und zweckmäßig wäre, wenn wir unendlich viel mehr Zeit, Kraft und Macht hätten.

Ganz ohne Hoffnung sind wir dabei nicht. Denn es geschehen tatsächlich noch Dinge, die man nur als Wunder bezeichnen kann. Etwa das Ende der DDR und der Sowjetunion, genauer: deren friedliches Ende. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich finde es keineswegs wunderbar, daß die soziale Barbarei, die mit dem Kapitalismus einhergeht, nun auch in diesen Staaten etabliert wird. Kapitalismus ist und bleibt der freche Versuch, den menschlichen Egoismus zu legitimieren und zu institutionalisieren. Aber das vielzitierte und plump bejubelte „Ende des Kommunismus“ war einfach insofern ein Wunder, als es in dieser Form und zu dieser Zeit von niemandem für möglich gehalten worden wäre.

Ein weiteres Wunder sollten wir ebenfalls nicht vergessen: den Umstand, daß wir das jahrzehntelange aberwitzige Wettrüsten, zumindest bis heute, überlebt haben. Dies ist schon angesichts der schieren Zahl der angehäuften Waffen ein Wunder. Berücksichtigt man dann auch noch den langen Zeitraum und die damit einhergehenden „Chancen“ von diplomatischen Mißverständnissen und technischen Unfällen sowie die grenzenlose, ja geradezu kriminelle Beschränktheit vieler agierender Politiker, dann muß man fast zum (wunder)gläubigen Menschen werden: so immens ist das Glück, die Unwahrscheinlichkeit oder wie immer man es nennen will, daß wir all dies überlebt haben!

Das gilt in ganz besonderem Maße für die Zeit der sogenannten „Nachrüstung“ in den achtziger Jahren. Was sich damals einige Verbrecher und Vollidioten auf der Seite der Nachrüstungsbefürworter geleistet haben, entzieht sich schlicht der Beschreibbarkeit. Diese Leute gehörten heute noch wegen Verbrechens gegen das Leben vor Gericht gestellt. Man denke nur an so hirnrissige Parolen wie „Freiheit statt Sozialismus“. Albert Einstein hat den unfaßbaren Schwachsinn, den die Nachrüstungsbefürworter als verantwortungsvolle Politik zu verkaufen suchten, prophetisch auf den Punkt gebracht: „Das Problem von Friede und Sicherheit ist weit wichtiger als der Gegensatz von Sozialismus – Kapitalismus. Denn erst muß man mal existieren, und dann kann man sich fragen, welche Form man für diese Existenz vorzieht.“

Wir hatten gefragt: Warum jetzt noch moralisch handeln? Gehen wir einen Schritt weiter: Warum überhaupt moralisch handeln? Selbstverständlich können wir dieser höchst vielschichtigen und verwirrenden philosophischen Grundsatzfrage hier nicht im entferntesten gerecht werden. Aber auf einen Gesichtspunkt bzw. Gedankengang soll dennoch hingewiesen werden.

Diejenigen, die nach Glück streben, verfehlen es meist, während diejenigen, die ganz andere Ziele verfolgen, dabei oft ihr Glück finden. Glück tritt in der Regel als Nebenprodukt des Strebens nach etwas ganz anderem auf. Dieses Phänomen wird als Paradoxie des Hedonismus bezeichnet. Peter Singer gibt dazu folgendes zu bedenken:

Die Strategie, das eigene Glück auf einem solchen Umweg zu erreichen, funktioniert allerdings nur bedingt, zumindest solange man sich solche „Umwegziele“ setzt, die im eigenen Interesse liegen: Sobald man nämlich das angepeilte Ziel auch tatsächlich erreicht hat, verflüchtigt sich eigentümlicherweise das Glücksgefühl. Vielmehr stellt sich ein Unbehagen und eine innere Leere ein, der die Menschen meist dadurch zu entfliehen suchen, daß sie sich ein neues, schwerer zu erreichendes Ziel setzen. Sobald zum Beispiel das langersehnte eigene Haus oder Geschäft gebaut oder etabliert ist, wird ein Wochenendhaus oder eine Filiale angestrebt.

So entsteht eine Handlungsspirale, bei der wir stets neue, höhere Ziele anstreben und vielleicht auch erreichen – nur um am Ende erkennen zu müssen, daß auch das Erreichen aller Ziele, die im eigenen Interesse liegen, nicht wirklich glücklich macht: Schließlich muß man sich eingestehen, daß auch dauernder Urlaub, ewige Erholung und exzessive Lust einfach nicht glücklich machen.

Deshalb erscheint es sinnvoll, nach einem Ziel Ausschau zu halten, das den engen Horizont der eigenen Interessen möglichst weit überschreitet. Und hier bietet sich der moralische Standpunkt als der geradezu ideale an: Das Ziel, anderen zu helfen, die Welt nach Kräften zu verbessern, bedeutet eine Aufgabe, bei der wir nie Gefahr laufen, ihr zu entwachsen.