Warum Peter Singers Thesen zur Euthanasie die Gemüter erhitzen
Helmut F. Kaplan
Die Situation ist paradox: Peter Singers Argumente im Rahmen der sogenannten Euthanasie-Debatte sind ausgesprochen rational. Die Reaktionen darauf sind aber ausgesprochen emotional, oft sogar irrational. Und dies, obwohl Singer in seinem (gemeinsam mit Helga Kuhse verfaßten) Buch „Muß dieses Kind am Leben bleiben?“ das methodische Minenfeld des Utilitarismus ebenso geschickt wie konsequent meidet.
Der Utilitarismus ist bekanntlich die ethische Position, wonach jene Handlungsalternative die beste ist, die „unterm Strich“ für alle Beteiligen das größte Maß an Glück bzw. das geringste Maß an Leiden bringt. Es ist unschwer zu erkennen, daß dieses Prinzip, auf den Umgang mit Behinderten angewandt, rasch zu unannehmbaren Konsequenzen führen kann: Die Lösung, die für alle Beteiligten, also für den Behinderten plus seinem gesellschaftlichen Umfeld, am bequemsten ist, ist nicht unbedingt auch jene, die für den Behinderten die beste ist!
Aber, wie gesagt, der Utilitarismus wird von Singer ohnehin umschifft. Warum aber dann die große Aufregung, warum die ganze „Singer-Affäre“? Etwas Licht in diese Frage zu bringen, wird Ziel dieser Abhandlung sein. Zuvor aber soll mit einem Vorurteil aufgeräumt werden, das sich nun bereits seit Jahren hält, das aber jeglicher faktischer Grundlage entbehrt, nämlich: daß sich Singer leichtfertig zum Herrn über Leben und Tod aufschwinge, daß er selbstherrlich bestimme, wessen Leben nun lebenswert ist und wessen Leben nicht.
Das Gegenteil ist der Fall. An keiner Stelle des erwähnten Buches wird leichtfertig oder voreilig über Leben und Leiden von Behinderten gesprochen oder gar entschieden. Vielmehr wird überall nach differenzierten und angemessenen Lösungen gerungen, nach Lösungen, die vor allem (neben den Angehörigen und sonstigen Beteiligten) den betroffenen Behinderten gerecht werden.
In diesem Zusammenhang darf man auch nicht, wie es leider immer wieder geschieht, vergessen, was die Ursache der ganzen Enthanasie-Debatte ist, nämlich: vorhandene übliche, aber unhaltbare Praktiken im Umgang mit Behinderten! Vor allem das sogenannte „Liegenlassen“:
Schwerstbehinderte Neugeborene, bei denen keinerlei vernünftige Aussicht auf eine Besserung ihres Zustandes (geschweige denn auf Heilung) besteht und deren ganzes Leben aller Voraussicht nach ausschließlich aus unerträglichem Leiden bestehen würde, werden einfach „liegengelassen“. Das heißt, sie werden ihrem Schicksal überlassen, bis sie langsam und oft sehr qualvoll zugrunde gehen. Dieses „natürliche“ Sterben, das man durch Nahrungs-, Medikamenten- und Flüssigkeitsentzug bewußt und willentlich herbeiführt, dauert oft tage- und wochenlang.
Hier setzt die Forderung Singers an: Wenn man sich schon einmal aus humanitären Gründen dazu entschlossen hat, ein schwerstbehindertes Kind sterben zu lassen – eben weil sein ganzs Leben aller Voraussicht nach nur aus dauerndem, unerträglichem Leiden bestehen würde -, dann sollte der Tod nicht langsam und qualvoll, sondern möglichst schnell und schmerzfrei herbeigeführt werden.
Ohne Zweifel geht es hier um komplexe medizinische wie philosophische Fragen. Und auf die gibt es nun einmal keine einfachen Antworten. Genau deshalb ist die ausführliche und vor allem öffentliche Diskussion so wichtig. Denn ansonsten etablieren sich einfache, zu einfache Lösungen, die mehr oder weniger heimlich praktiziert werden – zu Lasten der Behinderten.
Zurück zur Frage, warum denn die ganze Euthanasie-Debatte so verhängnisvoll verläuft. Warum erhitzen Singers Thesen die Gemüter so sehr, daß bis jetzt keine vernünftige Diskussion zwischen Singer und seinen Kritikern, korrekter: zwischen Singer und seinen Gegnern stattfand. Die Antwort auf diese Frage lautet meines Erachtens: Singers Argumente sind zwar zum allergrößten Teil bestechend rational, aber sie sind in entscheidenden Punkten psychologisch unannehmbar. Diese These soll anhand von zwei Aspekten der Singerschen Position verdeutlicht werden.
Stichwort „Recht auf Leben“. Voraussetzung für das Recht auf Leben ist nach Singer das Personsein. Das heißt, daß das betreffende Individuum Selbstbewußtsein hat, daß es einen Begriff von (der eigenen) Vergangenheit und Zukunft hat, daß es sich als kontinuierliches Selbst erlebt, das an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten identisch ist. Aus dieser Forderung nach dem Personsein als Voraussetzung für das Recht auf Leben folgt, daß auch gesunde Neugeborene kein Recht auf Leben haben. Denn Selbstbewußtsein entwickelt sich erst im Laufe des ersten Lebensjahres, also deutlich nach der Geburt.
Auch der Umstand, daß aus gesunden Neugeborenen einmal Personen werden, verleiht ihnen nach Singer kein Recht auf Leben. Denn: Potentialitäten sind moralisch irrelevant, sie konstituieren keine Rechte. Den Grund hierfür sieht Singer in der moralischen Bedeutungslosigkeit der Unterscheidung von Handlungen und Unterlassungen.
Diese Nichtunterscheidung von Handlungen und Unterlassungen hat in der Tat einiges für sich. Ob ich jemanden in den Fluß stoße oder ob ich einem Ertrinkenden nicht helfe, macht faktisch wie moralisch kaum einen Unterschied. In beiden Fällen bin ich verantwortlich für den Tod eines Menschen. Umgelegt auf das Thema Euthanasie stellt sich die Nichtunterscheidung von Handlung und Nichthandlung so dar:
Wenn man es für moralisch falsch hält, ein neugeborenes (oder noch nicht geborenes) Kind aktiv zu töten, weil sich daraus einmal eine Person entwickeln wird, dann müßte man es konsequenterweise auch falsch finden, eine Handlung zu unterlassen, die die gleiche Konsequenz hat: den Gechlechtsverkehr. In beiden Fällen, bei der aktiven Tötung wie bei der Nichtzeugung, wird das Entstehen einer Person verhindert. Tötung und Nichtfortpflanzung, Handlung und Unterlassung, haben die gleiche Konsequenz – und sind daher moralisch vergleichbar.
Sich fortzupflanzen halten wir aber nicht für eine moralische Pflicht, Nichtfortpflanzung für völlig legitim. Deshalb, so die Argumentation, dürfen wir auch die Tötung (einer Nichtperson) nicht verurteilen, da sie nichts anderes zur Folge hat wie unterlassener Geschlechtsverkehr, eben das Nichtentstehen einer Person.
Soweit Singers Überlegungen hinsichtlich der moralischen Gleichwertigkeit von Handlung und Unterlassung. Was hier in der Tat klar wird, ist, daß es Situationen gibt, in denen wir Potentialitäten, konkret: dem Person-werden-Können, keine moralische Relevanz beimessen. Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns folgendes vergegenwärtigen: Wir überlassen selbstverständlich jeder Frau die Entscheidung darüber, ob sie ein Kind haben möchte oder nicht. Und dies, obwohl die Entscheidung, kein Kind haben zu wollen, die gleiche Konsequenz hat wie die Tötung einer Nichtperson: das Nichtentstehen einer Person.
Unsere Nicht- oder zumindest Minderbeachtung von Potentialitäten kommt auch noch in einer anderen als selbstverständlich akzeptierten Praxis zum Ausdruck. Die meisten von uns halten es für völlig legitim, wenn nicht gar für geboten, eine Schwangerschaft zu unterbrechen, wenn sich herausstellt (oder auch nur der begründete Verdacht ergibt), daß der Fetus Defekte aufweist. Auch in diesem Fall nehmen wir das Nichtentstehen einer Person bzw. die Nicht-zur-Person-Entwicklung ohne weiteres in Kauf.
Hier kommt noch ein weiterer Aspekt ins Spiel. Wenn wir im Falle von vorhandenen oder auch nur befürchteten Defekten das Töten einer Nichtperson vor der Geburt für richtig halten, warum regen wir uns dann über das Töten einer Nichtperson nach der Geburt auf? Die Geburt ist schließlich, so Singer, nüchtern betrachtet, keine moralisch bedeutsame Zäsur. Sie bewirkt quasi nur einen „Ortswechsel“ der betreffenden Nichtperson, nämlich von innerhalb des Mutterleibs nach außerhalb des Mutterleibs.
Auch dieser Überlegung Singers kann man eine nicht unerhebliche Plausibilität nicht absprechen. Dies umso mehr im Falle von Frühgeburten: Während wir der Abtreibung von mit Defekten behafteten Feten ohne weiteres zustimmen, gilt das Töten eines gleichaltrigen (früh)geborenen Kindes als Verbrechen!
Angesichts solcher offensichtlicher Widersprüche plädiert Singer für ein moralisch und faktisch relevanteres und plausibleres Kriterium für das Recht auf Leben als es die Geburt darstellt – eben für das Personsein. Und dies läuft – konsequenterweise – darauf hinaus, daß Neugeborene noch kein Recht auf Leben haben, weil sie die Kriterien des Personseins nicht erfüllen:
„Ein Neugeborenes verfügt nicht über ein kontinuierliches Selbst. Es kann sich zu einer Person entwickeln, doch läßt sich daraus nicht ein Überlebensinteresse mit dem Ziel, eine Person zu werden, ableiten, da dem Neugeborenen die psychologische Kontinuität mit der Person fehlt, die es möglicherweise einmal wird.“ (S. 188 f.) „Ein Neugeborenes … besitzt nicht schon darum ein Lebensrecht, weil es ein Mensch ist und den Mutterleib verlassen hat. Sein Leben als Person hat noch nicht begonnen.“ (S. 214)
Das mag nun philosophisch so logisch und konsequent wie auch immer sein oder scheinen – aber psychologisch, als Menschen sträuben sich einem die Haare! Vor allem dann, wenn man das Ganze nicht abstrakt und quasi „von unten“, von der Vergangenheit her, sondern konkret und „von oben“, aus der Retrospektive betrachtet: Wenn vor meinem Personsein jemand so gedacht und gehandelt hätte, dann gäbe es mich heute nicht!
Und was heißt schon: daß „dem Neugeborenen die psychologische Kontinuität mit der Person fehlt, die es möglicherweise einmal wird“? Auch hier stehen einem die Haare zu Berge: Psychologische Kontinuität hin, psychologische Kontinuität her – es geht um ein und dasselbe Lebewesen, das entweder weiterleben und eine Person werden wird oder aber umgebracht wird. Punkt.
Natürlich hat der Hinweis auf die gleichen Folgen von Tötung und Nichtzeugung etwas für sich. Aber wenn hier schon von psychologischer Kontinuität die Rede ist, dann müßte man konsequenterweise auch noch von physischer und, sagen wir, kausaler Kontinuität sprechen – und entsprechend differenzieren:
Zwischen dem Entschluß, den Zeugungsakt zu vollziehen, und der daraus resultierenden Person besteht ein kausaler Zusammenhang. Zwischen dem Fetus und der daraus resultierenden Person besteht, wenn schon kein psychologischer, so doch zumindest und unzweifelhaft ein physischer Zusammenhang. Und es ist doch wohl auch ein Unterschied, ob ein vorhandener Fetus, das „physische Substrat“ der späteren Person, ausglöscht und damit die Weiterentwicklung zur Person abgebrochen wird oder ob er erst gar nie entsteht!
Dieser Unterschied ist faktisch und real und alles andere als eine irrationale Einbildung. Wer ihn leugnet, darf sich über empörte Proteste nicht wundern. Zugegebenermaßen bezieht die Empörung ihre Brisanz und Energie zu einen Gutteil auch aus der mangelnden psychologischen Sensibilität, mit der hier über buchstäblich existenzielle Dinge gesprochen wird. Insbesondere wird die Brisanz der angesprochenen – und wohl legitimen – rückblickenden persönlichen Perspektive völlig unterschätzt: Was wäre mit mir geschehen, wenn …!
Und damit sind wir – nach dem Personsein als Voraussetzung für das Recht auf Leben – bei der zweiten prekären Position bzw. Aussage Singers: Menschen mit bestimmten Behinderungen dürften oder sollten vor dem Erreichen ihres Personseins getötet werden. Menschen mit denselben Behinderungen, die bereits Personen sind, brauchen aber in keiner Weise zu befürchten, daß ihnen nach dem Leben getrachtet werde:
„Es (ist) etwas ganz anderes, ob über Leben und Tod eines schwerstgeschädigten Neugeborenen entschieden wird oder über Leben und Tod eines Menschen, der in der Lage ist oder war, die Bedeutung zumindest einiger Aspekte einer solchen Entscheidung zu verstehen. (… ) Ein Leben für nicht lebenswert zu befinden, bevor es recht eigentlich begonnen hat, ist eine Sache; eine ganz andere Sache ist es, die Notwendigkeit zu leugnen, die Qualität eines Lebens, das bereits gelebt wird, nach Kräften zu verbessern.“ (S. 26) „Kindestötung vor dem Einsetzen von Selbsbewußtheit zu erlauben, kann … schlechterdings für niemanden bedrohlich sein, der in der Lage ist, sich darüber Sorgen zu machen. Jeder, der versteht, was es heißt, zu leben oder zu sterben, muß bereits eine Person sein und besitzt dasselbe Recht auf Leben wie jeder von uns.“ (S. 186)
Hier haben wir, quasi in Reinkultur, jenen Aspekt der Singerschen Position, der, ungeachtet seines möglicherweise „richtigen“ faktischen und rationalen Hintergrundes, die Menschen dermaßen auf die Palme bringt. Die geradezu zwingende Reaktion: „Wenn Singers ‚Programm‘ Wirklichkeit wäre, dann gäbe es diesen Menschen nicht!“ Oder gar: „Wenn Singers ‚Programm‘ Wirklichkeit wäre, dann gäbe es mich nicht!“
Was ist die Lösung? Was ist der Ausweg aus dem Dilemma zwischen notwendiger Rationalität und berechtigter Emotionalität? Ich weiß es nicht. Gewiß ist nur, daß es vermessen wäre, in diesem Rahmen eine Lösung oder gar eine Patentlösung anzustreben. Aber es wäre schon enorm viel gewonnen, wenn das diffuse Unbehagen, das derzeit mit der gesamten Euthanasie-Debatte assoziiert wird, auf seine konkreten und wahren (Einzel-)Ursachen zurückgeführt werden könnte!
Und dies ist, wie mir scheint, zumindest zum Teil, gelungen. Erst durch dieses „Festmachen“ des Unbehagens wird der Weg frei zur dringend notwendigen ernsthaften Diskussion der anstehenden Probleme: für eine begründete Kritik dessen, was man ablehnt, und für einen fruchtbaren Umgang mit dem, was man für richtig hält. In dieser Auseinandersetzung – in der es um Leben, Leiden und Tod geht! – sind alle Beteiligten gefordert. Und zwar als Menschen, als ganze Menschen: Niemand darf sich mit einer bequemen einseitig rationalen oder einseitig emotionalen Position zufriedengeben.