Was hat das Great Ape Project mit der Tierrechtsbewegung zu tun?
Helmut F. Kaplan
Es gibt, aller Rückschläge und realen Unzulänglichkeiten zum Trotz, einen moralischen Fortschritt. Dieser besteht in der langsamen, aber stetigen Ausdehnung der moralischen Sphäre, das heißt in der Erweiterung jenes Bereiches, innerhalb dessen unsere moralischen Regeln und Rücksichten Geltung haben. Wir haben erkannt, daß andere Stämme, andere Nationen, andere Rassen und das andere Geschlecht in die moralische Sphäre aufgenommen werden müssen. Wir haben eingesehen, daß Rassismus und Sexismus moralisch willkürliche Diskriminierungen sind, weil Rasse und Geschlecht moralisch unwesentliche Merkmale sind.
Der nächste konsequente Schritt besteht darin zu erkennen, daß nicht nur die Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit moralisch bedeutungslos sind, sondern auch die Artzugehörigkeit: „Die Frage ist nicht: können sie denken? oder: können sie sprechen?, sondern: können sie leiden?“ bemerkte der englische Philosoph Jeremy Bentham bereits vor über 200 Jahren in bezug auf fühlende Lebewesen.
Die Diskriminierung aufgrund der Art oder Spezies, der Speziesismus, ist ebenso willkürlich, falsch und unhaltbar wie die Diskriminierung aufgrund der Rassen- oder Geschlechtszugehörigkeit. Rasse, Geschlecht und Spezies sind gleichermaßen untaugliche moralische Kriterien.
Wir brauchen für Tiere keine neue Moral. Wir müssen lediglich aufhören, Tiere willkürlich aus der vorhandenen Moral auszuschließen. Dies wird gewiß ein schwieriger und langwieriger Prozeß werden. Aber das war bei der Befreiung der Sklaven und bei der Emanzipation der Frauen nicht anders. In den USA wurde die Sklaverei erst 1865 abgeschafft. In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht auf Bundesebene erst 1971 eingeführt. Die Befreiung der Tiere, der Sklaven des 21. Jahrhunderts, hat eben erst begonnen. Aber die Tendenz in der Moralentwicklung ist unumkehrbar.
Diese Philosophie der Tierrechtsbewegung ist ebenso einfach wie konsequent. Und das Great Ape Projekt ist der logische erste Schritt zur praktischen Umsetzung dieser Philosophie. Denn die Willkürlichkeit der Spezieszugehörigkeit als moralisches Kriterium ist naturgemäß dort am deutlichsten und größten, wo die faktischen Unterschiede zwischen den Spezies am geringsten sind. Und dies ist bei Menschen und Menschenaffen der Fall: Von den Eigenschaften und Fähigkeiten, die einst als „typisch menschlich“ galten, wissen wir heute, daß wir sie mit den Menschenaffen teilen. Egal ob es sich um den kognitiven, emotionalen oder sozialen Bereich handelt – die Unterschiede sind (was uns spätestens seit Darwin ohnehin hätte klar sein müssen!) nicht grundsätzlicher, sondern gradueller Natur.
Menschenaffen können die amerikanische Taubstummensprache erlernen und über ein aktives Vokabular von etwa tausend Wörtern verfügen. Mit dieser Zeichensprache können sie sich sowohl untereinander als auch mit Menschen unterhalten. Sie können gedruckte Wörter, unter anderem ihren eigenen Namen, lesen. Sie sind in der Lage, gesprochenes Englisch zu verstehen und ein passives Vokabular von mehreren Tausend Wörtern zu beherrschen. Sie können auf Englisch gestellte Fragen in der Zeichensprache antworten. Sie äußern sich über ihre Gefühle und verwenden dabei Worte wie „glücklich“, „traurig“, „furchtsam“, „freuen“, „begierig“, „enttäuschen“, „böse“ und „Liebe“.
Menschenaffen verfügen über ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, zeigen Humor, erfinden und spielen Spiele, lügen, täuschen, können abstrakt denken, haben eine bildliche Vorstellung, sind kreativ, malen Bilder. Sie sind in der Lage, komplexe Probleme planmäßig und unter Zuhilfenahme verschiedenster Werkzeuge zu lösen.
Diese Tiere zeigen fürsorgliches und altruistisches Verhalten, sie weinen bei Verletzungen oder wenn sie alleine gelassen werden, sie trauern um Verstorbene und sie sprechen über den Tod. Und: Sie sind (was schon die vorangehenden Ausführungen belegen und was unter anderem die Verwendung von Personalpronomen und das Selbererkennen im Spiegel vollends außer Zweifel stellen) selbstbewußte Lebewesen.
Menschenaffen haben aber nicht nur „typisch menschliche“ Eigenschaften und Fähigkeiten, diese sind bei ihnen auch noch in einem Maße ausgeprägt, wie es bei vielen Menschen nicht der Fall ist. Das kognitive, emotionale und soziale Niveau von Menschenaffen liegt deutlich über dem vieler Menschen. Kleine Kinder, senile Erwachsene und geistig Behinderte etwa sind häufig, gemessen an den „typisch menschlichen“ Eigenschaften, weit weniger menschlich als es die Menschenaffen sind.
Es gibt eben, wie es Peter Singer schon früh auf den Punkt brachte, keine Eigenschaften und Fähigkeiten, die alle Menschen und nur Menschen haben. Das gilt für den Vergleich zwischen Menschen und Tieren im allgemeinen und für den Vergleich zwischen Menschen und Menschenaffen im besonderen. Deshalb war es – faktisch, intellektuell und moralisch – höchste Zeit, ein Vorhaben wie das Great Ape Projekt zu initiieren, damit endlich der biologischen und psychologischen Kontinuität zwischen Menschen und Tieren auch moralisch und rechtlich Rechnung getragen wird.
Das Great Ape Projekt ist die logische Konsequenz, die aus den Fakten und Forderungen, die der Tierrechtsbewegung zugrundeliegen, gezogen werden muß. Das Great Ape Projekt veranschaulicht aber auch beispielhaft die strategisch-politischen Probleme, die sich bei der Realisierung der Ziele der Tierrechtsbewegung ergeben. Das vielleicht wichtigste dieser Probleme ist die Frage, ob wir bei der Verfolgung dieser Ziele „realistisch“ bzw. „gemäßigt“ oder aber „radikal“ vorgehen sollten. Bevor wir auf die spezielle Problematik, die sich hier für das Great Ape Projekt ergibt, eingehen, wollen wir uns zunächst aber allgemein mit der Frage „Gemäßigt oder radikal?“ auseinandersetzen.
Die gemäßigte Position kann, zugespitzt, wie folgt formuliert werden: Das Ende der Ausbeutung der Tiere können wir nicht „über Nacht“, sondern nur Schritt für Schritt, also durch Reformen erreichen. Wir müssen danach trachten, das Leiden der Tiere sukzessive zu verringern. Bei den Schlachttieren zum Beispiel dadurch, daß wir durchsetzen, daß sie beim Warten auf das Geschlachtetwerden zumindest Wasser erhalten, damit sie nicht zusätzlich zu allen anderen Qualen auch noch Durst leiden müssen.
Die radikale Position lautet hingegen, wiederum pointiert formuliert: Das Ende der Ausbeutung erreichen wir durch Reformen nie. Eine „Humanisierung“ der Schlachtung, beispielsweise, kann und wird ebensowenig je zur Abschaffung der Schlachtung führen wie die „Humanisierung“ der Sklaverei oder die Zulassung „sanfter“ Vergewaltigung je zum Verbot von Sklaverei und Vergewaltigung geführt hätten. Mehr noch: Reformen sind letztlich nicht nur nicht nützlich, sondern sogar schädlich, weil jede Regulierung der Ausbeutung gleichzeitig und automatisch auch eine Legalisierung bzw. (weitere) Institutionalisierung der Ausbeutung bedeutet.
Bei der ersten unbefangenen Erwägung dieser Positionen ergibt sich ein ernstes Problem: Haben nicht im Grunde beide Seiten recht? Ist es nicht eigentlich völlig klar, daß, zum Beispiel, das Schicksal der Schlachttiere dadurch verbessert werden soll, daß sie wenigstens nicht auch noch Durst leiden müssen? Ist es aber nicht auch einleuchtend, daß eine „Humanisierung“ der Schlachtung, faktisch wie moralisch, ein ebensolches Unding ist wie die „Humanisierung“ der Sklaverei oder die Zulassung „sanfter“ Vergewaltigung?
Dieses psychologisch beunruhigende und politisch lähmende Ergebnis kann und muß aber nicht das letzte Wort zur Frage „Gemäßigt oder radikal?“ sein. Denn es gibt für dieses paradoxe Problem durchaus eine konstruktive Lösung, nämlich eine vernünftige Kombination beider Positionen:
Wir müssen selbstverständlich alle möglichen und (momentan) „realistischen“ Reformen fordern und fördern. Alles andere wäre gegenüber den unmittelbar betroffenen Tieren zynisch und unverantwortlich. Aber: Wir dürfen hierbei niemals aus den Augen verlieren, daß mit der Realisierung dieser Reformen das eigentliche Problem, das Unrecht an sich noch nicht einmal berührt wird. Und: Wir müssen dies auch laut, deutlich und öffentlich sagen: Wir werden uns mit der Regulierung des Unrechts nicht zufrieden geben, sondern so lange weiterkämpfen, bis das Unrecht selbst beseitigt ist.
Gleichzeitig müssen alle Mittel maximal ausgeschöpft werden, die einen Beitrag zur Beendigung des Unrechts an sich leisten bzw. leisten können: Information, Aufklärung, Bewußtseinsbildung.
Die angemessene Antwort auf die ungeheure Ausbeutung der Tiere heißt nicht Reform oder Abschaffung, sondern Reform und Abschaffung: Wir müssen zu allen Zeiten auf allen Ebenen alles Mögliche tun, um das Leiden zu verringern und das Unrecht zu beenden!
Was bedeutet dies für das Great Ape Projekt?
Erstens gilt es, eine „gemäßigte“, „realistische“ Argumentations- und Handlungsebene zu etablieren und zu nutzen. Hier geht es um die möglichst rasche Verwirklichung möglichst großer Schritte hin zur konkreten Verbesserung des Schicksals der Menschenaffen. Dabei dürfen wir aber nie vergessen, worum es beim Great Ape Projekt wirklich geht – und gehen muß: um die völlige Befreiung der Menschenaffen aus menschlicher Tyrannei, das heißt um die Aufnahme der Menschenaffen in die Sphäre der moralisch Gleichen.
Zweitens muß für eben dieses „radikale“ Ziel – die gänzliche Befreiung der Menschenaffen – mit allen angemessenen Mitteln bei allen potentiellen „Symathisanten“ und Entscheidungsträgern geworben werden. Die Menschen müssen informiert und aufgeklärt werden. Sie müssen motiviert werden, sich mutig und vorbehaltlos für die Verwirklichung dieses Zieles zu engagieren. Dabei werden die (weitere) philosophische und (natur)wissenschaftliche Grundlagenarbeit sowie die differenzierte Öffentlichkeitsarbeit eine vorrangige Rolle zu spielen haben.
Drittens darf auch die tatsächliche und völlige Realisierung des Great Ape Projekts nicht als Ziel, sondern lediglich als erster Schritt begriffen werden – als erster Schritt hin zur Befreiung aller Tiere! Jede andere Denk- und Handlungsweise bedeutete nicht nur Verrat an allen anderen Tieren, sondern entzöge auch dem Great Ape Projekt selbst jegliche rationale wie moralische Grundlage: Das Great Ape Projekt macht nur Sinn und ist nur erklär- und verstehbar im Rahmen des Projekts Tierrechtsbewegung!
Schließlich geht es beim Gleichheitsprinzip nicht primär darum, daß verschiedene Spezies ähnliche Interessen haben, sondern darum, daß vorhandene ähnliche Interessen gleich berücksichtigt werden, das heißt darum, daß Interessen unabhängig von der Spezieszugehörigkeit ihrer Träger moralisch gleich ernstgenommen werden. Diese grundlegende Forderung nach gleicher Berücksichtigung ähnlicher Interessen kann vernünftigerweise nicht auf Menschenaffen beschränkt werden. Sie gilt universell, für alle Tiere. (Der Unterschied zwischen Menschenaffen und anderen Tieren ist lediglich, daß ihre Interessen den menschlichen Interessen besonders ähnlich sind und daß daher auch die Rechte, die zum Schutz dieser Interessen nötig sind, den Rechten, die zum Schutz unserer Interessen nötig sind, besonders ähnlich sind.)
Deshalb kann und darf das Ziel nur in der Befreiung aller Tiere bestehen. Jedes andere Ziel wäre moralisch fragwürdig und strategisch kurzsichtig. Die Interessen aller Tiere müssen entsprechend ihrer Art und Ausprägung ethisch berücksichtigt und rechtlich geschützt werden. Die moralische Sphäre muß so weit ausgedehnt werden, bis sie alle umschließt, die ihres Schutzes bedürfen.