Menschenwürde versus Leiden lindern

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Menschenwürde versus Leiden lindern

Helmut F. Kaplan

In Berichten und Diskussionen über Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnik werden immer wieder die „Horrorszenarien“ „Menschenzucht“, „Menschen vom Reißbrett“, „Visionen à la Frankenstein“ usw. an die Wand gemalt. Warum „Horror“? Warum „Frankenstein“? Warum verläßt uns ausgerechnet jetzt, wo wir endlich können, was wir schon immer wollten, der Mut? Die moralische Diskussion über das medizinisch Machbare gerät in eine immer stärkere irrationale Schieflage. Dafür zwei Indizien:

Wir haben an sich recht klare Vorstellungen darüber, was unter Gesundheit zu verstehen ist. Und wir sind uns auch vollig darin einig, daß Gesundheit einen hohen Wert darstellt – um das Mindeste zu sagen: viele Menschen messen der Gesundheit sogar den höchsten Wert überhaupt bei.

So ist es auch nur konsequent, daß wir bei Abweichungen von Gesundheit in Form von Krankheiten oder Behinderungen alles daran setzen, diese zu heilen bzw. zu beseitigen. In Fällen, wo dies aber medizinisch prinzipiell (noch) nicht möglich ist, geschieht mitunter psychologisch Merkwürdiges: die betreffende Krankheit oder Behinderung mutiert urplötzlich zur unverwechselbaren Charaktereigenschaft! Und zwar erfolgt diese ebenso wunderbare wie verwunderliche Umwertung stets dann, wenn die Krankheit oder Behinderung vor dem Hintergrund von Pränataldiagnosik, Abtreibung oder Euthanasie diskutiert oder bewertet wird:

Um der gefürchteten Forderung nach einer wie immer gemeinten Beseitigung oder gar Verhinderung des kranken oder behinderten Lebens zuvorzukommen, wird aus der unerwünschten Abweichung schlagartig ein Identität stiftendes Merkmal. Das ist nicht weniger absurd, als ein gebrochenes Bein plötzlich zur interessanten Eigenschaft hochzustilisieren!

Warum um alles in der Welt können wir nicht bei Verstand und Moral bleiben – und sagen: Diese Krankheit oder Behinderung ist bedauerlich (was dadurch bewiesen ist, daß sich niemand freiwillig in diesen Zustand versetzen lassen würde), aber sie darf und wird uns nie und nimmer daran hindern, dem Betroffenen jede nur erdenkliche Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen!

Zweites, eingangs bereits erwähntes Beispiel irrationaler Verwirrung im Zusammenhang mit medizinisch (Un-)Möglichem: „Menschenzucht“. „Menschen vom Reißbrett“ lehnen wir ebenso pathetisch wie hysterisch ab. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir genau das ablehnen, was unseren Gesundheits- und Normalitätsstandards am ehesten entspricht! Anders ausgedrückt: Wir beharren auf unseren Unvollkommenheiten.

In diesem Zusammenhang spielt wohl unser gleichermaßen infantiler wie größenwahnsinniger Begriff von Menschenwürde eine Rolle: Wir, die Krone der Schöpfung, sind eine derart großartige Erscheinung im Universum, daß selbst die eklatantesten Abweichungen vom Idealbild unserer Einzigartigkeit keinen Abbruch tun!

Die ganze Absurdität unseres Denkens kommt freilich erst in der grundsätzlichen Ablehnung der möglichen Realisierung des menschlichen Idealbildes zum Ausdruck. Daß wir in „Verdrängungsfällen“ die Vervollkommnung des Menschen ablehnen, ist ja ehrbar und unabdingbar: in allen Fällen, in denen mögliche „perfekte“ Menschen existierenden nicht perfekten Menschen schaden könnten oder würden. Konkretes, extremes Beispiel: wenn Behinderteneinrichtungen geschlossen werden sollten, um die Förderung „künstlich“ gezeugter Hochbegabter zu finanzieren.

Mit der prinzipiellen Ablehnung des medizinisch Möglichen verhindern wir die Vervollkommnung des Menschen aber auch in jenen Fällen, wo niemandem geschadet, sondern nur jemandem genutzt werden würde: da, wo es schlicht darum geht, ob ein Mensch, der (sowieso) existieren wird, „normal“ oder „verbessert“, das heißt gesünder auf die Welt kommen soll.

Dies ist nun aber völlig unlogisch und inkonsequent: Warum lehnen wir die Annäherung an das selbst definierte Ideal, die bei der traditionellen medizinischen „Reparatur“ (Heilung) des Menschen selbstverständlich ist, bei der (Re-)“Produktion“ plötzlich ab?

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es soll hier keineswegs für eine „medizinische Philosophie“ in Richtung „Machbarkeitswahn“ plädiert werden. Wofür argumentiert werden soll, ist lediglich, daß wir bei Weichenstellungen Fakten, Vernunft und Logik nicht aus den Augen verlieren sollten. Nicht ein diffuser, mythischer Begriff von Menschenwürde soll unsere Entscheidungen leiten, sondern das konkrete Ziel, Leiden zu lindern.

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