Das Leiden der Tiere
Helmut F. Kaplan
Von seiten der Philosophie wurde zu Recht darauf verwiesen, daß die geringeren Reflexions- und Kommunikationsmöglichkeiten von Tieren unter Umständen dazu führen, daß Tiere in vergleichbaren Situationen mehr leiden als Menschen. Peter Singer etwa bringt das Beispiel eines kranken Tieres, das für Heilzwecke eingefangen wird und dabei die gleiche Angst empfindet wie eines, das umgebracht werden soll – während ein Mensch über eine bevorstehende Operation bestens informiert und daher weniger beunruhigt ist. Verwiesen wurde auch darauf, daß ein eingesperrter Mensch seine Entlassung antizipieren kann – während bei einem eingesperrten Tier dessen gesamter geistige Horizont vom Gefangensein ausgefüllt ist.
Ich möchte auf diesen Aspekt tierlichen Benachteiligtseins etwas näher eingehen. Schließlich verfügen die meisten von uns über diesbezüglich bedeutsame eigene Erfahrungen: Wenn wir Leid erleben – aufgrund von Verlusten, Unglücken, Katastrophen -, stehen uns diverse Möglichkeiten der Leidensverarbeitung und -linderung zur Verfügung.
Allein das Beschreiben des eigenen Leidens, insbesondere im vertraulichen Gespräch, bedeutet schon eine erhebliche Erleichterung. Dann haben wir die Möglichkeit, insbesondere wenn wir gläubig sind, das Erlebte in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen. Aber auch Atheisten und Agnostikern steht ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Leidensbearbeitung und -verringerung zur Verfügung:
Traumatische Erlebnisse und deren mögliche Bewältigung können zum Gegenstand psychologischer Untersuchungen gemacht werden. Und die Philosophie hält ein ganzes Arsenal von Deutungsmöglichkeiten des Leidens parat. Beides, die empirische wie die gedankliche Duchdringung des Phänomens Leiden, kann zu einer wesentlichen Hilfe beim Ertragen eigenen Leidens werden.
Und natürlich die Kunst – für die Leiden ja geradezu das Lebenselexier ist! Die künstlerische Darstellung von Leiden stellt eine hochwirksame Form der Leidensbewältigung dar – sowohl auf seiten des Künstlers, der sich sein Leid „von der Seele schreibt“ oder „von der Seele malt“ usw., als auch auf seiten des Lesers oder Betrachters usw., der sein eigenes Leiden wiedererkennt.
Ohne wesentlich zu übertreiben, läßt sich wohl sagen: Das Beste, was wir vom Leben erwarten können, ist, unser Leiden in möglichst hohem Maße ausdrücken, mitteilen oder bearbeiten zu können. Erspart bleibt es uns sowieso nicht.
Tieren stehen all diese Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit und Linderung von Leiden nicht oder nur in geringerem Maße zur Verfügung. Vor allem entbehren sie – womit wir auf die Sinnfrage zurückkommen – des mächtigsten Mittels zur Leidensbewältigung, das Friedrich Nietzsche in die Formel goß: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“.
Diese Wahrheit kann auf unterschiedliche Weise wirksam werden. So kann man etwa eine momentan fast unerträgliche (und „objektiv“ betrachtet tatsächlich unerträgliche) Situation dadurch ertragen, daß man sie als Wille Gottes begreift. Oder man betrachtet das Durchstehen schwieriger Zeiten als notwendige Bedingung für das Erreichen eines selbst gesetzen Zieles.
Zurück zu Tieren, deren Leiden auch objektiv bzw. von außen betrachtet völlig sinnlos ist: Bei Menschen sagen wir zu Recht, ihr Leiden oder Sterben sei sinnlos – und daher besonders tragisch – gewesen, wenn sie etwa für einen ungerechten Krieg oder für eine absurde Idee ihr Leben ließen oder für einen Menschen, der es überhaupt nicht wert war. Das Leiden und Sterben, das wir Tieren zufügen, ist so gesehen praktisch immer sinnlos – und zwar in höchstem Maße und auf obszönste Weise: Wir bringen die Tiere um, weil sie uns schmecken oder weil es uns Spaß macht.