Enzyklopädische Esser
Helmut F. Kaplan
Oft hört man, vielen Menschen, die in Städten leben, sei gar nicht mehr bewußt, daß das Fleisch, daß sie essen, von Tieren stammt – weil es eben so handlich portioniert, hygienisch verpackt usw. sei. Nun mag dies vereinzelt ja zutreffen, eine auch nur einigermaßen glaubwürdige allgemeine moralische Entschuldigung resultiert hieraus aber keineswegs. Zum Beispiel deshalb nicht, weil die beliebten und überall publizierten Koch- und Freßkolumnen einen Gutteil ihrer Beliebtheit gerade daraus beziehen, daß sie besonders exotische „Fleischlieferanten“ beschreiben und empfehlen – von denen jedem klar ist, daß es sich um Tiere handelt und bei denen niemand eine wie auch immer geartete „Notwendigkeit“, diese Tiere zu essen, auch nur behauptet. Ein Beispiel (aus Profil, 38, 2005):
„Zu den meistgestellten Fragen an einen Restaurantkritiker zählt neben jener nach der ‘Tarnung‘ … die folgende: ‚Haben Sie wirklich schon dieses grausliche Zeug, Schlangen, Würmer, Raupen und so … brrrr … gegessen?‘ – Spannung kommt auf. Ich nicke schuldbewußt und antworte wahrheitsgemäß: ‚So allerlei davon. Ich besitze nämlich einen enzyklopädischen Gaumen, der alles Essbare auf dieser Welt wenigstens einmal gekostet haben möchte.'“
Enzyklopädischer Gaumen – welch perverse Wortschöpfung! Die einen streben nach enzyklopädischem Wissen, die anderen nach enzyklopädischem Essen. Und unser Freß-Enzyklopädist hat den Ehrgeiz, alles Eßbare auf Erden wenigstens einmal gekostet zu haben. Prägnanter kann man die Primitivität und Moralvergessenheit des Fleischessers nicht auf den Punkt bringen: Der Wert der Welt wird auf ihre eßbaren Anteile reduziert.
So schockierend und abstoßend solche Aussagen auch klingen mögen – sie beschreiben tatsächlich das Lebensgefühl vieler Menschen. Man braucht nur in Restaurants Menschen beim Essen zu beobachten und beim Reden zu belauschen (was angesichts der Lautstärke meist der falsche Ausdruck ist), um oft zur unabweisbaren Erkenntnis zu gelangen: Dieser Mensch lebt nur, um zu essen.
„‚Haben Sie auch schon dieses … igittigitt … lebendige Affenhirn aus der Schädeldecke gelöffelt?‘, lautet … die nächste Frage. – Antwort: ‚Ist mir schon angeboten worden, würde ich aber nie essen. Selbst Gourmets haben ihre Ehre, zumindest manche.'“
Nun, wie die Ehre eines enzyklopädischen Essers aussieht, wäre natürlich interessant – wird aber leider nicht verraten. Dafür bekommen wir aber einen Tipp, wo bestimmte Leichen oder Leichenteile am besten schmecken:
„Was Entenzungen betrifft, wäre ich im Augenblick überfragt. Aber wenn Sie ein schönes chinesisches Quallenhuhn, feine geschmorte Hühnerfüße, zarte Froschschenkel, köstliche Abaloneschnecken … wollen, so rate ich Ihnen zu einem Besuch des ‚Happy Buddha‘.“
Was kann man da noch sagen? Zweierlei – ich wiederhole mich – jedenfalls nicht: Erstens, daß hier irgendjemand bezweifeln könnte, daß es sich um Tiere handelt. Und zweitens, daß deren Verzehr auch nur im entferntesten dem individuellen oder kollektiven menschlichen Überleben dienen würde. Sehen wir also der unangenehmen, ja niederschmetternden Wahrheit ins Gesicht: Je länger die widerliche allgemeine Fleischfresserei anhält, obwohl es hierfür aufgrund des fortschreitenden globalen Zivilisationsprozesses immer weniger Notwendigkeiten und Ausreden gibt, desto deutlicher und drastischer zeigt sich die fundamentale menschliche Unmoral: Wer sich nicht wehren kann, wird ausgebeutet, umgebracht und aufgefressen.