Befreiung der Tiere
Helmut F. Kaplan
„Befreiung der Tiere“ ist der Titel eines Buches von Peter Singer, das 1975 (unter dem Originaltitel „Animal Liberation“) erschien und den Anstoß zur Tierrechts- bzw. -befreiungsbewegung gab. Mit „Befreiung der Tiere“ kann zweierlei gemeint sein: erstens die erwähnte Bewegung, die auch Tieren eigenständige, durchsetzbare Rechte verleihen will, und zweitens konkrete Tierbefreiungen, also die Befreiung von Tieren aus Legebatterien, Versuchslabors, Pelzfarmen usw.
Im folgenden soll auf die zweite Bedeutung von „Befreiung der Tiere“ eingegangen werden, genauer, auf einen Aspekt, der damit verbunden ist: auf die sogenannte „Gewaltfrage“. Bei der Befreiung von Tieren aus ihren Gefängnissen werden Tierrechtler zuweilen „gewalttätig“: sie überwinden Mauern, beschädigen Zäune, öffnen Käfige usw.
Ich habe über diese „Gewaltfrage“ viel nachgedacht, einiges veröffentlicht, aber das meiste wieder verworfen. Der Grund, warum es so schwierig ist, hier zu befriedigenden Ergebnissen zu gelangen, liegt meines Erachtens in der mangelnden Berücksichtigung der historischen Perspektive, in der man diese Frage vernünftigerweise sehen sollte.
Der Tierrechtsphilosoph Steve F. Sapontzis vergleicht die heutige Situation der Tiere mit jener der Sklaven vor zweihundert Jahren: Damals begnügte sich die gesellschaftliche Mehrheit damit, einen „ordentlichen“ Umgang mit Sklaven zu fordern. Es gab aber auch eine wachsende Minderheit, die die Sklaverei insgesamt verurteilte. Diese Menschen erkannten: Sklaverei ist grundsätzlich falsch – egal wie „ordentlich“, freundlich oder nett man mit Sklaven auch immer verfahren mag.
Genau aus diesem Grund erscheinen uns Sklavenbefreiungen aus heutiger Sicht auch völlig legitim. Und aus dem gleichen Grund, weil auch unsere Versklavung der Tiere grundsätzlich falsch ist, werden heutige Tierbefreiungen künftigen Generationen als völlig legitim erscheinen. Dazu der prominente Rechts- und Sozialphilosoph Norbert Hoerster (in seinem Buch Abtreibung im säkularen Staat, 1991, S. 64 f.):
„Jeder, der im Einklang mit den herrschenden moralischen und rechtlichen Konventionen unserer heutigen europäischen Gesellschaft zwar den ‚Rassismus‘ und den ‚Sexismus‘ ablehnt, den ‚Speziesismus‘ jedoch für eine intuitive Selbstverständlichkeit hält, sollte sich … folgendes vor Augen halten: Jahrhundertelang wurden in derselben europäischen Gesellschaft auch ‚Rassismus‘ und ‚Sexismus‘ für intuitive Selbstverständlichkeiten gehalten, die ein ‚anständiger Mensch‘ nicht in Frage stellte. ( … )
Man braucht nicht unbedingt an einen allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechtes zu glauben, um trotzdem annehmen zu dürfen, daß der heute noch weithin herrschende ‚Speziesismus‘ eines Tages selbst unter Juristen und Politikern keine bessere Presse finden wird als der ‚Rassismus‘ oder der ‚Sexismus‘ in den aufgeklärteren Regionen der heutigen Welt.“
Wie heute Tierbefreiungen gegen bestehende Gesetze verstoßen, verstießen seinerzeit Sklavenbefreiungen gegen bestehende Gesetze. An der Sache hat sich nichts geändert: die institutionalisierte Ausbeutung von wehrlosen Wesen, seien es menschliche oder tierliche Sklaven, war, ist und bleibt falsch. Geändert hat sich aber etwas an unserem Bewußtsein:
Heute erkennen immer mehr Menschen, daß nicht nur die Hautfarbe und Geschlechtszugehörigkeit moralisch für sich genommen belanglos sind, sondern auch die Artzugehörigkeit: Warum soll man jemanden quälen dürfen, weil er zu einer anderen Art, zu einer anderen biologischen Spezies gehört? Die Ausbeutung und Diskriminierung aufgrund der Spezies, der Speziesismus, ist ebenso willkürlich und falsch wie Rassismus und Sexismus. „Die Frage ist nicht: können sie denken ? oder: können sie sprechen ?, sondern: können sie leiden ?“, erkannte Jeremy Bentham bereits 1780.