Die Ethische Weltformel
Helmut F. Kaplan
Im Bewußtsein, daß viele tierethische Fragen noch keineswegs restlos geklärt sind, war die bisherige Ethik der Tierrechtsbewegung gekennzeichnet durch eine stetige Ausdehnung und Komplizierung der Theorie. Das Buch „Die Ethische Weltformel“ soll eine Trendumkehr markieren: eine Reduktion und Vereinfachung der Theorie. Nicht, weil etwa mittlerweile alle tierethischen Probleme gelöst wären, sondern weil klar wird, daß die Anforderungen an die Tierethik völlig überzogen waren.
Das erkennt man sofort, wenn man den Blick vom Umgang mit Tieren abwendet und sich ansieht, wie unser Umgang mit Menschen funktioniert: Da kommen wir praktisch ohne Ethik aus: „Beim mitmenschlichen Umgang verlassen wir uns schlicht auf eine Handvoll praktischer Regeln – die alle kennen und deren Mißachtung entsprechend empfindlich bestraft wird: Du darfst niemanden umbringen, foltern, vergewaltigen, einsperren und berauben. Das ists im Wesentlichen auch schon – und es funktioniert! ( … ) Wir kommen … mit ganz wenigen und ganz einfachen praktischen Regeln aus, nach deren ‚wirklicher‘, ‚wahrer‘, ‚ethischer‘ oder sonstiger Berechtigung oder Begründung in der Praxis kein Mensch fragt.“ (Die Ethische Weltformel, 2003, S. 65 f.) Komplexe ethische Erwägungen finden – sinnvoller- und notwendigerweise – lediglich im Zusammenhang mit schwierigen Spezialfragen wie Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung usw. statt. (Ebenda, S. 9)
Während also auf der Tierethik ein immenser Begründungsdruck lastet, lastet auf der Menschenethik, der Ethik gegenüber Menschen, was die faktische Praxis des mitmenschlichen Umgangs anbelangt, praktisch gar kein Begründungsdruck. Denn die wichtigsten Regeln für unseren Umgang untereinander sind nicht ethischer, sondern gesetzlicher Natur. (Ebenda, S. 66)
Das hat im übrigen eine wichtige und weitreichende Folge: Solange der Umgang mit Menschen in hohem Maße gesetzlich geregelt ist, während es für den Umgang mit Tieren de facto keine wirksamen Bestimmungen gibt, spielt die Tierethik eine viel größere praktische Rolle als die Menschenethik. Denn wenn es keine gesetzlichen Bestimmungen gibt, die unser Verhalten gegenüber Tieren regeln, dann wird unser Verhalten gegenüber Tieren eben weitgehend durch moralische Überlegungen und Intuitionen bestimmt. (Ebenda, S. 9)
Zweierlei Maß
Im zwanghaften Bemühen, nur ja seriös und wissenschaftlich genug zu sein, hat sich die Tierethik in eine Sackgasse manövrieren lassen und ist auf einen plumpen Trick hereingefallen: An die Tierethik werden wie selbstverständlich methodische Forderungen gestellt, die an die Menschenethik nie und nimmer gestellt werden – „und die darüber hinaus von keiner Ethik je auch nur ansatzweise erfüllt werden könnten: konkrete Regeln für das praktische Handeln in allen erdenklichen Situationen aufzustellen und deren ‚Richtigkeit‘ hieb- und stichfest zu ‚beweisen‘.“ (Ebenda, S. 66 f.)
Eine solche perfekte Ethik gibt es nicht und kann es nicht geben. Das heißt natürlich nicht, daß wir überhaupt keine Ethik bräuchten und daß wir uns nicht um eine möglichst gute Ethik bemühen sollten. Im Gegenteil! Eine Welt, in der sich alle nur danach richteten, was gesetzlich verboten ist, anstatt auch danach zu fragen, was moralisch richtig ist, wäre eine schreckliche Welt. Denn „schließlich definiert der gesetzlich festgelegte Verhaltenskodex nicht mehr als so etwas wie ein moralisches Notprogramm, das die allerschlimmsten Auswüchse menschlicher Rohheit und Gemeinheit verhindern soll“ (ebenda, S. 67).
Aber: Solche über das gesetzlich festgelegte „moralische Notprogramm“ hinausgehenden ethischen Erwägungen und Regeln müssen einfach und nachvollziehbar sein. Denn sind sie es nicht, verstehen die Menschen diese Ethik nicht und werden sie deshalb schon allein aus diesem Grund nicht anwenden. „Was wir brauchen, sind nicht unverständliche Theorien, sondern einfache, verständliche, praktikable Regeln“ (ebenda, S. 69). Und optimal wäre natürlich eine einzige ethische Regel, die quasi die Essenz aller Moral zusammenfaßt und ausdrückt. Und eine solche ethische Regel existiert in der Tat, es ist die Goldene Regel.
Goldene Regel
„Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.“ Oder: „Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt sein willst.“ Allen gegenteiligen Behauptungen der akademischen Ethik zum Trotz (ebenda, S. 70 ff.), funktioniert diese Regel in der Praxis ganz ausgezeichnet. Alle Bedenken, die gegenüber der Goldenen Regel vorgebracht werden, beruhen letztlich darauf, daß man sie mißverstehen will. Meist, um damit seine eigene großartige Intellektualität herauszustreichen – nach dem Motto: Eine so allgemeinverständliche Regel ist doch weit unter meiner exklusiven akademischen Würde!
Tatsache ist: „Wenn alle Menschen die Goldene Regel konsequent anwenden würden, wären mit einem Schlag 99 Prozent aller Übel, die sich durch moralisches Handeln beseitigen lassen, beseitigt“ (ebenda, S. 72).
Denn die Goldene Regel, diese gigantische ethische Weltformel, sagt uns nicht nur, wie wir uns gegenüber unseren Mitmenschen verhalten sollen, sondern auch, wie wir uns gegenüber Tieren verhalten sollen. Der Einwand, diese Regel wäre gegenüber Tieren nicht anwendbar, weil wir nicht wüßten, wie Tiere behandelt werden wollten, ist ein billiger Vorwand (ebenda, ab S. 74), um Tiere weiterhin hemmungslos ausbeuten zu können. Denn wenn wir wollen, wissen wir sehr genau, wie Tiere behandelt werden möchten!
Dazu brauchen wir uns nur ehrlich und ernsthaft in die Situation der Tiere zu versetzen, um uns dann zu fragen, wie wir an ihrer Stelle behandelt werden möchten. Das wird uns in den allermeisten Fällen, etwa bei Tieren im Schlachthof oder im Versuchslabor, überhaupt nicht schwer fallen. Im Gegenteil: Unser Problem wird vielmehr meistens sein, daß wir uns so leicht in die Lage der Tiere versetzen können!
Dritte Etappe der Tierethik
Es ist Zeit für die dritte Etappe der Tierethik (ebenda, S. 9): für die Erkenntnis, daß im Alltag komplizierte moralische Überlegungen über unseren Umgang mit Tieren ebenso überflüssig sind wie komplizierte moralische Überlegungen über unseren Umgang mit Menschen.
Die erste Etappe der Tierethik bestand im bizarren Irrglauben, daß es sich bei Tieren quasi um ethische Exoten handelt, auf die unsere herkömmlichen moralischen Theorien und Argumente überhaupt nicht anwendbar sind. Die zweite Phase bestand in der Erkenntnis, daß man über den richtigen Umgang mit Tieren genauso rational diskutieren kann wie über den richtigen Umgang mit Menschen. Und die dritte Etappe der Tierethik, die es jetzt zu verwirklichen gilt, besteht, wie gesagt, darin zu erkennen, daß diffizile ethische Diskussionen in bezug auf Tiere ebenso überflüssig sind wie diffizile ethische Diskussionen in bezug auf Menschen. Wahre und wirksame Ethik ist einfach.