Meckys Moral-Maxime: So moralisch wie möglich
Helmut F. Kaplan
Nach Wolfgang Stegmüller unterscheidet Kierkegaard zwischen dem „abstrakten Denker“ und dem „existierenden Denker“: Ersterer arbeitet abstrakt-logisch, ohne sich von seinem Denken selbst vereinnahmen zu lassen. Er baut, bildlich gesprochen, in seinen Gedanken Schlösser, in denen er aber nicht wohnt – sodaß ihm, sollte eines seiner Schlösser abbrennen, selber nichts weiter passiert.
Für den „existierenden Denker“ ist Erkennen hingegen alles andere als ein interesseloses Schauen oder eine intellektuelle Spielerei. Er philosophiert quasi aus der innersten Not seiner Existenz heraus. Der „existierende Denker“ ist in bezug auf die Fragen, die er bearbeitet, persönlich involviert und emotional engagiert.
Ich gehöre wohl zur zweiten Gruppe: Ich behandle im Grunde nur Fragen, deren Lösung für mich selbst von existentieller Bedeutung ist. So war es auch bei der folgenden Fragestellung. Genauer: Folgende Überlegungen bzw. Lösungsansätze ENTSTANDEN erst in einer Situation, die für mich privat extrem prekär und belastend war. Unsere Katze, Mecky, war sehr krank, tagelang am Rande des Todes.
Moralische Konflikte
Viele Moralen sind uns wenig behilflich, wenn es um klassische Konfliktfälle geht (wer darf zuerst ins Rettungsboot, wer soll aus dem brennenden Haus gerettet werden? usw.). Dies trifft etwa für Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ und für Schopenhauers Mitleidsethik zu.
Keine Frage: Es gehört zu den Aufgaben der Ethik, für solche Fälle plausible und praktikable Regeln zu erarbeiten. Zumal es hier ja keineswegs nur um rein hypothetische Situationen geht, sondern oft um bedrückend reale Probleme. Man denke nur an den medizinischen Bereich im allgemeinen und an Organtransplantationen im besonderen.
Aber: Vom „ethischen Output“ bzw. von der psychologischen Effizienz her können solche einfachen, „eindimensionalen“ Moralen, die keine ausdrücklichen Prioritätensetzungen beinhalten, dennoch außerordentlich wertvoll sein!
Einfache Moral
Oscar Wilde sagte bekanntlich in bezug auf seinen Geschmack, daß dieser ganz einfach sei: Immer das Beste. In Analogie dazu könnte man sagen: Meine Moral ist ganz einfach: Immer das meiste – soll heißen: Immer so moralisch wie möglich sein, immer so viele gute Taten wie möglich setzen, immer so viel helfen, wie man kann.
Daß auch diese Moral keine ausdrücklichen Vorrangregeln für Konflliktfälle bereitstellt, ist nun in Wirklichkeit ein kleinerer Nachteil, als man vielleicht vermuten würde. Denn wer wirklich konsquent danach trachtet, so moralisch wie möglich zu sein, so viel Gutes wie möglich zu tun, der wird sich auch echte und ehrliche Gedanken in bezug auf richtige Prioritätensetzungen machen!
Noch wichtiger ist freilich: Echte Konflikte sind im moralischen Gesamtbereich, also bei allen moralisch relevanten Situationen, die uns begegnen, die absolute Ausnahme! In den allermeisten Fällen steht nicht eine Entscheidung zwischen zwei moralischen Handlungen an (soll ich zuerst A oder B retten, soll A oder B das Spenderorgen bekommen? usw.), sondern eine Entscheidung zwischen einer moralischen und einer EGOISTISCHEN Handlung!
Moralisch oder egoistisch
Die typische moralische Frage, die allen Menschen ununterbrochen begegnet, lautet nicht: Helfe ich A oder B? Sondern: Helfe ich oder helfe ich nicht? Handle ich moralisch oder handle ich egoistisch? Stehe ich meinem Nächsten bei oder tue ich das nicht? Kümmere ich mich um die Sorgen und Nöte anderer oder gehe ich meinen eigenen Vergnügungen nach? Tröste ich einen Trauernden oder gehe ich ins Kino?
Um solche Fragen bzw. Entscheidungen geht es in aller Regel. Ethische Konflikte im Sinne einer notwendigen Entscheidung zwischen zwei oder mehreren moralischen Handlungsalternativen in bezug auf andere sind die absolut Ausnahme. „Meine Moral ist ganz einfach: Immer das meiste!“ hätte daher, allgemein akzeptiert und praktiziert, immense positive Konsequenzen: Wenn viele Menschen soviele gute Taten wie möglich setzten – die Welt wäre augenblicklich ein nicht mehr wiederzuerkennender, unvergleichlich besserer und schönerer Ort.
Und jedenfalls für mich gilt: Die Beherzigung dieser Maxime ist in schweren Zeiten das einzige, was einem wenigstens etwas Erleichterung verschaffen kann. Die Gewißheit, für Mecky alles mir Mögliche getan zu haben, führte doch zu einer gewissen, vor allem zur einzig möglichen Entlastung. Nur wenig später bestätigte sich diese Erfahrung: Mein Vater wurde schwerst krank. Und wieder war es das Bewußtsein, alles Mögliche getan zu haben, das alleine mir etwas Trost und Erleichterung bescheren konnte.