Tierrechte und Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung II
Peter Singer über Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung
Vorbemerkung
Diskussionen über Demokratie, Gesetzesverstöße und Gewaltanwendung im Zusammenhang mit Tierrechten leiden häufig an einer schmerzlichen und schädlichen perspektivischen Schieflage. Diese soll durch die folgende zusammenfassende Darstellung von Peter Singers einschlägigen Darlegungen korrigiert werden. Die angeführten Seitenangaben beziehen sich auf folgende Quelle: Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam, 2., revidierte und erweiterte Auflage 1994. Helmut F. Kaplan
Ungehorsam
Zusammenfassung unserer Schlußfolgerungen über den Gebrauch illegaler Mittel für lobenswerte Zwecke:
•Es gibt gute Gründe, normalerweise das Ergebnis etablierter, friedlicher Schlichtungsverfahren zu respektieren.
•Diese Gründe haben besonderes Gewicht, wenn das Schlichtungsverfahren demokratisch ist und dessen Ergebnis wirklich die Ansicht der Mehrheit repräsentiert.
•Dennoch gibt es Situationen, in denen illegale Mittel zu rechtfertigen sind.
Es gibt zwei Möglichkeiten, in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, illegale Mittel zu rechtfertigen:
•Die Entscheidung, der man sich widersetzt, entspricht in Wirklichkeit nicht der Ansicht der Mehrheit.
•Die Entscheidung, der man sich widersetzt, entspricht der Mehrheit, ist aber ein so großes Unrecht, daß Handlungen gegen die Mehrheit gerechtfertigt sind.
Ungehorsam aus dem ersten Grund verdient am ehesten die Bezeichnung ziviler Ungehorsam. Hier kann man die illegalen Mittel als Erweiterung der legalen Mittel, echte demokratische Ergebnisse sicherzustellen, betrachten. Diese Erweiterung kann notwendig sein, weil die legalen Kanäle zur Realisierung von Reformen nicht richtig funktionieren, z. B. weil sich politische Repräsentanten zu sehr von Lobbyisten beeinflussen lassen oder weil die Bevölkerung über das, was vorgeht, zuwenig Bescheid weiß.
Der Ungehorsam zielt hier also nicht darauf ab, der Mehrheit Zwang anzutun, sondern darauf, die Mehrheit zu informieren oder die Repräsentaten dazu zu bringen, entsprechend der Mehrheit tätig zu werden. Ungehorsam ist hier eher ein Mittel, den demokratischen Entscheidungsprozeß zu fördern, als ihn zu behindern.
Die Rechtfertigung illegaler Mittel zur Verhütung von Dingen, die dem Willen der Mehrheit der Menschen entsprechen, ist schwerer, aber nicht unmöglich. Würde eine Politik des Völkermordes im Stil der Nazis demokratisch legitimiert, hieße es, den Respekt vor dem Mehrheitsprinzip ad absurdum zu führen, wenn man diesen Mehrheitsentscheid für sich als moralisch verbindlich betrachtete. „Um uns Übeln von solcher Größe zu widersetzen, sind wir prakisch zur Anwendung jedes Mittels berechtigt, das Wirkung verspricht.“
Hier entsteht allerdings ein Problem: Lassen wir auch nur eine Ausnahme in bezug auf die Pflicht, demokratische Beschlüsse zu befolgen, zu, so erhebt sich die Frage: Wo ist die Trennlinie zwischen Greueln, die Widerspruch rechtfertigen, und weniger schweren Fällen, die Widerspruch nicht rechtfertigen? Und wer soll entscheiden, wann ein Problem so schwerwiegend ist, daß es die Pflicht zum Gesetzesgehorsam außer Kraft setzt? Die Antwort kann nur lauten: Wir müssen selbst entscheiden, denn die Entscheidung durch die Gesellschaft wurde ja schon getroffen.
Bei unseren Überlegungen müssen wir die Schwere des zu verhindernden Unrechts abwägen gegen die Gefahr, daß es durch unsere Vorgangsweise zu einem dramatischen Niedergang der Achtung vor Gesetz und Demokratie kommt. Außerdem müssen wir die Möglichkeit berücksichtigen, daß unsere Bemühungen ihr Ziel verfehlen und zu Reaktionen führen, die die Chance auf einen Erfolg mit anderen Mitteln verkleinern. (S. 382 – 387)
Exkurs: Handlungs- und Unterlassungslehre
Die sogenannte Handlungs- und Unterlassungslehre besagt, daß es einen moralisch bedeutsamen Unterschied macht, ob man eine Handlung vollzieht, die bestimmte Folgen hat (z. B. den Tod eines behinderten Kindes), oder ob man etwas unterläßt, was die gleichen Folgen hat. Diese Lehre wird weniger um ihrer selbst willen bzw. als eigenständiges Prinzip vertreten, sondern ist eher eine Implikation einer anderen moralischen Position, nämlich jener, die besagt: Solange wir nicht ganz bestimmte moralische Regeln verletzen, wie etwa: „töte nicht!“, „lüge nicht!“, „stiehl nicht!“, tun wir alles, was die Moral von uns verlangt.
Eine solche Moral, die aus speziellen Regeln besteht, muß strikt unterscheiden zwischen Handeln und Unterlassen. Nehmen wir etwa die Regel „töte nicht!“ Es ist nicht allzu schwer, diese Regel einzuhalten; die wenigsten von uns sind Mörder. Viel schwieriger ist es hingegen zu vermeiden, Unschuldige sterben zu lassen – etwa aus Nahrungsmangel oder aufgrund unzulänglicher medizinischer Versorgung. Wenn wir einigen helfen könnten, es aber nicht tun, lassen wir sie sterben. Bezöge man die Regel gegen das Töten aber auch auf Unterlassungen, ginge ihre Befolgung weit über das hinaus, was man von allen anständigen Menschen fordern kann.
Eine Ethik, die Handlungen danach beurteilt, ob sie bestimmte moralische Regeln verletzen oder nicht, muß daher einen deutlichen moralischen Unterschied machen zwischen Handlungen und Unterlassungen. Eine Ethik, die Handlungen nach ihren Konsequenzen beurteilt, wird diese Unterscheidung hingegen nicht machen. Denn die Folgen von Handlungen und Unterlassungen unterscheiden sich oft nicht. So kann etwa die Unterlassung, einem an Lungenentzündung erkrankten Kind Antibiotika zu geben, die gleichen (schrecklichen) Folgen haben wie die Verabreichung einer tödlichen Spritze. Zwischen Sterbenlassen und Töten gibt es keinen moralischen Unterschied an sich. (S. 263 f., 267)
Gewalt
Die Ablehnung von Gewalt kann auf einer absoluten Regel beruhen oder auf der Einschätzung ihrer Konsequenzen. Pazifisten halten Gewalt meist für absolut falsch – unabhängig von ihren Konsequenzen. „Dies setzt … die Gültigkeit der Unterscheidung zwischen Handlungen und Unterlassungen voraus. Ohne diese Unterscheidung wären Pazifisten, die sich weigern, Gewalt anzuwenden, wenn es das einzige Mittel ist, um größere Gewalt zu verhüten, verantwortlich für die größere Gewalt, die zu verhüten sie unterlassen.“
Angenommen, wir haben die Möglichkeit, einen Tyrannen zu töten, der alle, die ihm nicht passen, umbringt. Außerdem wüßten wir, daß der Tyrann dann durch einen populären Oppositionsführer ersetzt würde, der den Rechtsstaat wieder herstellen würde. Wenn wir uns jetzt auf den Standpunkt stellen, Gewalt sei immer falsch und uns daher weigern, das Attentat auszuführen: Müssen wir dann nicht eine gewisse Verantwortung für die weiteren Morde des Tyrannen übernehmen?
Wenn der Einwand gegen die Unterscheidung von Tun und Unterlassen gilt, „dann müssen diejenigen, die keine Gewalt anwenden, um größere Gewalt zu verhüten, die Verantwortung für die Gewalt übernehmen, die sie hätten verhindern können. ( … ) Wir haben gesehen, daß die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlasssen keine Bedeutung an sich hat.“ Hinsichtlich Motivation und angemessenem Tadel gibt es freilich schon Unterschiede. So sind die meisten Fälle, in denen es unterlassen wird, den Tod zu verhindern, nicht gleichbedeutend mit Mord.
Aber wir sollten uns nicht allzusehr mit terminologischen Fragen aufhalten, weil das Wortklauberei ist. Auch ist es letztlich müßig, darüber zu streiten, ob es angemessen ist, den Tod von schlecht ernährten Arbeitern in ungesunden und schlecht gesicherten Fabriken als „gewaltsam“ zu bezeichnen. Oder den Tod aufgrund vielfach erhöhter Säuglingssterblichkeit oder geringerer Lebenserwartung in armen Ländern. Es tut wenig zur Sache, ob wir diese Dinge bzw. ihre Ursachen als „Gewalt“ bzw. als „gewaltsam“ bezeichnen. Aber ihre Wirkung ist genauso schrecklich wie Gewalt.
„Eine absolute Verurteilung der Gewalt steht und fällt mit der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen. Darum fällt sie.“ Aber es gibt auch wichtige Einwände gegen die Anwendung von Gewalt bzw. Fragen, die vor der Anwendung von Gewalt geklärt werden müssen. Zum Beispiel: Ist Gewalt das einzige oder wenigstens das schnellste Mittel, um ein wichtiges Ziel zu erreichen? Auch gilt es, die längerfristigen Folgen zu bedenken, etwa den Verhärtungseffekt: Egal, wie „gerechtfertigt“ oder „notwendig“ ein Mord sein mag – er verringert den Widerstand, weitere Morde zu begehen.
Weiter gilt es zu bedenken: Beim gewaltsamen Vorgehen nehmen wir gewisse Verluste unter Berufung auf künftige Vorteile als gerechtfertigt in Kauf. Aber diese künftigen Vorteile sind nie gewiß. Außerdem können wir selbst bei gutem Ausgang selten sicher sein, daß das Ergebnis nicht auch durch gewaltfreie Mittel hätte erreicht werden können. Es gibt viele Beispiele dafür, daß Gewaltanwendung letztlich keine positiven Effekte hat, etwa die IRA-Anschläge in Nordirland und die sinnlosen Morde der Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland sowie der Roten Brigaden in Italien.
Die angeführten Einwände ergeben zusammen ein schlüssiges Argument gegen Gewaltanwendung, insbesondere, wenn sie sich unterschiedlos gegen normale Bürger und das Gemeinwesen richtet. Es gibt allerdings auch Fälle von Gewalt, die sich nicht so überzeugend ausschließen lassen. Etwa das Umbringen eines mordgierigen Tyrannen, dessen mörderische Politik Ausdruck seiner Persönlichkeit ist. Der Erfolg einer einzelnen gewaltsamen Handlung (Attentat) ist wahrscheinlich und möglicherweise der einzige Weg, der Herrschaft des Tyrannen, also viel größerer Gewalt, ein Ende zu setzen.
Es gibt auch andere Formen von Gewalt. So haben etwa Mitglieder der Animal Liberation Front Labors, Käfige und Ausrüstungsgegenstände zerstört, mit denen Tiere eingesperrt, verletzt oder getötet wurden. Dabei wurde aber jegliche Gewalt gegen Lebewesen, Menschen wie Tiere, vermieden. „Beschädigung von fremdem Eigentum ist keine so schwerwiegende Angelegenheit wie das Verletzen oder Töten, und sie mag daher durch Gründe gerechtfertigt sein, die nichts rechtfertigen würden, was empfindungsfähigen Wesen schadet.“
Das heißt nicht, daß Gewalt gegen Eigentum nicht ernstgenommen werden müßte. Aber es kann Situationen geben, in denen Gewalt gegen Eigentum moralisch gerechtfertigt ist. Der Rechtfertigungsgrund muß durchaus nicht immer etwas so Epochmachendes wie die Umgestaltung der Geselleschaft sein. Er kann auch „das spezifische und kurzfristige Ziel sein, eine Anzahl von Tieren vor schmerzhaften Experimenten zu bewahren, die lediglich aus Gründen der speziesistischen Voreingenommenheit der Gesellschaft durchgeführt werden.“
Ob eine solche Handlung im Hinblick auf die Folgen tatsächlich zu rechtfertigen ist, hängt von vielen Fragen ab, etwa: Werden in der Folge noch mehr solcher Einrichtungen angeschafft und noch mehr Tiere gezüchtet werden? Was passiert mit den freigelassenen Tieren? Werden die illegalen Handlungen zum Anlaß genommen werden, um Verbesserungen im Tierschutzgesetz zu unterlassen – mit der Begründung, es müsse der Eindruck vermieden werden, Gewalt zu tolerieren?
Gewalt ist nicht leicht zu rechtfertigen, selbst wenn sie sich nur gegen Eigentum richtet – und nicht gegen empfindungsfähige Wesen und nicht gegen einen Tyrannen und nicht gegen die allgemeine Öffentlichkeit. Diese Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von Gewalt sind wichtig, weil wir bestimmte Formen von Gewalt, etwa Terrorismus, „nur dann praktisch absolut verurteilen können, wenn wir diese Unterschiede beachten. Die Unterschiede werden jedoch verwischt, wenn man alles verurteilt, was unter die allgemeine Überschrift ‚Gewalt‘ fällt.“
(S. 389 – 396)