Perspektiven der Tierrechte (Interview)
Interview mit dem Tierrechtsverein „Canis“ im März 2002 (Gekürzt)
1) Herr Dr. Kaplan, Sie gelten als Vordenker der Tierrechtsbewegung im deutschsprachigen Raum. Wie schätzen Sie die Chancen ein, daß aus der bestehenden kleinen idealistischen Elite eine breite Bewegung erwächst?
Das ist schwer zu sagen: Je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man diese Frage betrachtet, erscheint ein breiter Erfolg der Tierrechtsbewegung mehr oder weniger wahrscheinlich. Aber das Entscheidende ist doch dies: Wir alle, die wir die philosophische Stimmigkeit und ethische Notwendigkeit der Tierrechtsbewegung erkannt haben, sind verpflichtet, alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit diese Bewegung möglichst rasch möglichst erfolgreich ist.
2) Was muß geschehen, damit Vegetarismus / Veganismus bzw. die Idee, Tieren Grundrechte zu verleihen, gesellschaftlich mehrheitsfähig wird?
Zwei Dinge sind besonders wichtig: Erstens dürfen wir nicht aufhören, den Menschen drastisch vor Augen zu führen, welch gräßliches Leid den Tieren überall und ununterbrochen zugefügt wird. Zweitens muß die Bevölkerung unermüdlich über die entscheidenden biologischen Fakten – etwa die Leidensfähigkeit der Tiere – und ethischen Argumente – etwa die Parallelen zwischen Rassismus, Sexismus und Speziesismus – informiert und aufgeklärt werden.
3) Teilen Sie unsere Meinung, daß Tierrechte oder Veganismus ebenfalls nur Mosaikteile eines noch weiter gefaßten Zieles sein müssen, nämlich einer holistischen Gesellschaft? Damit soll nicht ein zurück in die Höhlen gemeint sein, sondern ein ganzheitliches Gesellschaftskonzept, daß Mensch, Tier, Natur und Kultur harmonisch integriert? Schluß mit dem Irrglauben „Krone der Schöpfung“ oder „Spitze der Evolution“.
Hier liegt eine Riesengefahr, der wir uns stets bewußt sein müssen: Die Vertreter der Tierrechtsbewegung kommen aus den unterschiedlichsten „weltanschaulichen Ecken“. Das Spektrum umfaßt „wertkonservative“ Naturschützer, „linke“ Umweltaktivisten, „liberale“ Intellektuelle, esoterisch Orientierte usw. usw. Wenn alle diese Menschen beim Argumentieren für Tierrechte auf ihren jeweiligen ideologischen Hintergrund beharren, ist das Scheitern unumgänglich. Deshalb sollten sich Tierrechtler auf das revolutionär Neue an der Tierrechtsbewegung besinnen: auf die rationale, „ideologiefreie“ Argumentation, der sich niemand, der den Anspruch erhebt, rational zu denken und zu handeln, entziehen kann.
4) Könnte der Holismus eine zukunftsträchtige Alternative zum Kapitalismus der Gegenwart darstellen?
Ich habe mich, unter anderem aus den erwähnten Gründen, nicht näher mit dem Holismus befaßt. Aber grundsätzlich ist natürlich klar, daß die Tierausbeutung nur ein Element eines allgemeinen „kleinteiligen“ Denkens darstellt. Auf ethischer Ebene heißt dieses „kleinteilige“, isolierte Denken und Handeln Egoismus. Und worum es bei der Tierethik wie der Gesamtethik geht, ist die Überwindung dieses Egoismus. Noch ein Wort zum Kapitalismus: Als institutionalisierte Egoismusförderung ist der Kapitalismus die ethisch widerwärtigste Gesellschaftsform.
5) Das „Great Ape Project“, das Vorhaben, Menschenaffen „Menschenrechte“ zu verleihen, wird allgemein als Schritt zur Überwindung des Speziesismus gewertet. Könnte es sich aber nicht als kontraproduktiv erweisen, Grundrechte für Tiere über deren „Menschenähnlichkeit“ erstreiten zu wollen? Da steckt der anthropozentrische Ansatz doch weiterhin drinnen. Denn wodurch könnte nach dieser Argumentationsschiene z.B. das Grundrecht auf Freiheit oder Unversehrtheit bei einem Fisch oder Vogel begründet werden; Lebewesen, die evolutionär weit weg vom Homo sapiens anzusiedeln sind?
Erstens: Prinzipeill haben Sie mit Ihrem Einwand natürlich recht. Aber praktisch ist es am einfachsten und effizientesten, zunächst und vor allem mit der Ähnlichkeit zu argumentieren. Zweitens: Damit sensibilisiert man die Menschen dafür, daß die Rechtsgrenze nicht mit der Speziesgrenze Mensch – Tier zusammenfällt. Und damit hat man das einfache, praktische Argument: „Weil Tier, keine Rechte“ vom Tisch. Mit der Beseitigung des Pauschalurteils „Tiere haben keine Rechte“ geht automatisch eine Aufwertung aller Tiere einher – eben, weil die Feststellung Nicht-Mensch allein nicht mehr ausreicht, um Wesen auszubeuten. Drittens: Entscheidend ist ja nicht die evolutionäre Nähe, sondern die faktische Ähnlichkeit bzw. Vergleichbarkeit. Und die ist zwischen Menschen einerseits und Fischen und Vögeln andererseits durchaus auch gegeben, allem voran im Hinblick auf die Leidensfähigkeit.
6) Bei welchen Tiergattungen würden Sie persönlich die Grenze für Grundrechte ziehen?
Bei gar keinen. Alle Wesen haben das Recht, so zu leben, wie es ihren Anlagen, Bedürfnissen und Interessen entspricht. Und wo wir nicht sicher sind, ob ein Wesen bestimmte Interessen hat, müssen wir, quasi nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“, davon ausgehen, daß es sie hat.
7) Gegenwärtig gibt es Bestrebungen, Formulierungen wie „human töten“ in Gesetzestexte einfließen zu lassen. Sehen Sie darin nicht einen Widerspruch in sich? Es sei denn, man definiert den Menschen a priori als „Töter“. Sie selbst schreiben ja auch, daß es ein Unding ist, von „Schlachten in Würde“ zu sprechen.
Selbstverständlich ist es grober Unfug und Unsinn, von „humanem“ oder „würdevollem“ Schlachten zu reden. Ebensogut könnte man von humaner oder würdevoller Folter oder Hinrichtung sprechen. Andererseits ist aber jede reale Verbesserung des Schicksals der Tiere zu begrüßen.
8) Prof. Joseph Gitelson, Leiter des ehemaligen Weltraumforschungsprogrammes der Sowjetunion, antwortete in Wien bei einem Vortrag auf die Frage, ob Vegetarismus für die Menschheit ein evolutionärer Fortschritt wäre, mit einen knappen und klaren „Ja!“. Stimmen Sie dem zu?
Auf alle Fälle. [Mit heutigem Wissen und Bewußtsein müßte diese Antwort relativiert werden bzw. der Veganismus propagiert werden, Anmerkung von H. F. K., 2017.] Andere umzubringen und aufzufressen, ist schließlich der Inbegriff des Barbarischen, Rohen, Unzivilisierten. Jede Abkehr davon ist ein Fortschritt. Das Gerede von „natürlichen Kreisläufen“ und dergleichen ist hohles Geschwafel, das von menschlicher Unreife und Unmoral ablenken soll.
9) In den Niederlanden laufen beim Projekt PROFETAS (Protein Food, Environment, Technology and Society) interdisziplinäre Forschungen, wie sich die Herstellung von „Kunstfleisch“ auf Gesellschaft, Umwelt und Technik auswirken könnte. Glauben Sie persönlich, daß darin eine Alternative zu Intensivtierhaltung und Umweltzerstörung liegen könnte, nämlich in der massenhaften Produktion von „Fleisch“ auf Basis von Soja / Weizen oder Zellkulturen?
Ich halte dies für die mit großem Abstand erfolgversprechendste Zukunftsperspektive. Denn Menschen mit Ethik zu kommen, ist immer ein äußerst mühseliges und unsicheres Unterfangen. Wenn aber vielfältige vegane Lebensmittel zur Verfügung stünden, die gleich wie Fleisch schmeckten und vielleicht auch noch preisgünstiger und gesünder wären, so wäre das eine sehr realistische Grundlage für revolutionierende Änderungen. [Im Hinblick auf „Kunstfleisch“ (im Unterschied zu „Pflanzenfleisch“) muß diese Antwort aus heutiger Sicht stark relativiert werden, u. a. aufgrund des Bio-Booms, der mit einer Glorifizierung des „Natürlichen“ einhergeht, Anmerkung von H. F. K., 2017.]
10) Auf Ihrer Homepage steht zu lesen, daß nichts dagegen spricht, daß Vegetarier rauchen, zumal dadurch keinen Tieren Schaden zugefügt wird. Nun führen aber gerade die Tabakmultis Testreihen mit Kaninchen oder anderen Tieren durch? Ihre Antwort darauf?
Ich halte diesen Ansatz: „Das und jenes darfst Du nicht tun, denn da laufen diverse Testreihen, die Du damit unterstützt“ für völlig willkürlich, verfehlt und wirkungslos. Was machen Sie, wenn es Testreihen zur Entwicklung besserer Sonnen- und Lesebrillen gibt? Darf man dann nicht mehr in die Sonne gehen und keine Bücher mehr lesen? Oder nehmen Sie den medizinischen Bereich generell: Angesichts der vielen Tierversuche, die hier stattfinden, dürfte dann kein Mensch mehr zum Arzt gehen. Die einzige sinnvolle und zielführende Strategie ist: Tierversuche grundsätzlich verbieten – egal, wofür sie gemacht werden. Solange dies nicht geschehen ist, wird es immer Diskussionen darüber geben, ob nicht zur Klärung dieser oder jener ganz besonders wichtigen Frage Tierversuche doch noch erlaubt werden müßten.
11) Würden Sie sich persönlich als religiös bzw. spirituell bezeichnen; nicht im Sinne von kirchengebunden, sondern gewissermaßen von innen heraus? Oder betrachten Sie sich selbst eher als nüchternen Wissenschafter bzw. Agnostiker?
Ich bin Agnostiker und glaube an keinen objektiven, vorgegebenen Sinn des Lebens. Aber man kann dem Leben einen Sinn geben. Den Sinn meines Lebens sehe ich im Lindern von Leiden.