Ethik ist unerläßlich
„Weniger Fleisch“ ist wie „Weniger Foltern“
Helmut F. Kaplan
Würden Tierrechtler, die vor Jahrzehnten ins Koma gefallen sind, heute erwachen – sie kämen aus dem Staunen nicht mehr heraus: aus dem Staunen über den desaströsen Zustand, in dem sich die Tierrechtsbewegung befindet. Wie konnte es soweit kommen? Die Dramatik dieser Frage setzt eine Sichtweise voraus, die keineswegs zutreffen muß, nämlich, daß die Tierrechtsbewegung quasi der Logik der Geschichte folge, weil sie die konsequente und notwendige Fortsetzung anderer Bewegungen wie der Befreiung der Sklaven oder der Emanzipation der Frauen darstelle. Möglich ist aber natürlich auch, daß die „Anfänge der Tierrechtsbewegung” de facto nichts anderes waren als ein vorübergehender Modetrend. So betrachtet, erscheint die Entwicklung der vergangenen Jahre – weg von der Tierrechtsidee, zurück zur routinierten, selbstverständlichen Tierausbeutung – in einem völlig anderen Licht: Es wurde lediglich der frühere, „normale” Zustand wiederhergestellt.
Welche Sichtweise die richtige ist, wird sich erst rückblickend sagen lassen. Allerdings gab es in jüngerer Vergangenheit eine paradoxe und im Hinblick auf ihre Folgen völlig falsch eingeschätzte Entwicklung, die nicht eben hoffnungsvoll stimmt: Seit der intensiven öffentlichen Diskussion der Bücher „Tiere essen” von Jonathan Safran Foer und „Anständig essen” von Karen Duve hat sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Richtung „Weniger Fleisch!” etabliert: Wir seien bisher mit dem Thema Fleisch wohl etwas zu sorglos umgegangen, nun gelte es – frei nach dem Motto „Wir haben verstanden” -, offener, sensibler und verantwortungsvoller zu handeln.
Was völlig übersehen wird: Diese neue „Weniger Fleisch!”-Philosophie ist ein Glücksfall für die FLEISCHINDUSTRIE! Warum? Rinderwahn, Vogelgrippe, Schweinepest, Klimadiskussion, Dioxinskandal – solche Ereignisse, Debatten und Skandale konnten dem Fleischkonsum trotz aller immer wieder aufflammender „Weniger Fleisch!”-Appelle de facto nie etwas anhaben: Die Konsumenten weichen vorübergehend auf andere, „unbelastete” Tiere aus, Forscher verändern das Futter von Rindern, um deren Methanausstoß zu verringern usw. – und nach kurzer Zeit ist ohnehin wieder alles vergessen. FAKTISCHE DISKUSSIONEN dieser Art, in denen es um Gesundheit und Ökologie geht, schaden der Fleischindustrie nicht.
Ebensowenig PSEUDOETHISCHE DISKUSSIONEN, bei denen es angeblich um „Weniger Fleisch!” um der Tiere willen geht. Solchen Forderungen fehlt nämlich jegliche moralische Glaubwürdigkeit und politische Kraft. Das begreift man sofort, wenn man sie auf Menschen umlegt: Wer, anstatt zu sagen, Foltern und Vergewaltigen sind FALSCH, fordert, daß WENIGER gefoltert und vergewaltigt wird, hat keine plausible Botschaft. (Martin Luther King träumte auch nicht von der Aufhebung der Rassentrennung jeden Montag!) Deshalb erheben Menschenrechtler auch NIE Forderungen wie „Weniger foltern!” oder „Weniger vergewaltigen!” – weil Foltern und Vergewaltigen IMMER falsch sind!
Um einem häufigen Mißverständnis vorzubeugen: So wenig das PROGRAMM „Weniger Fleisch!” zielführend ist – und so wenig Programme wie „Weniger foltern!” oder „Weniger vergewaltigen!” zielführend wären -, so sehr ist natürlich jedes ERGEBNIS „Weniger Fleisch” zu begrüßen! NACHDEM klargestellt wurde, daß Fleischessen AN SICH – also immer – falsch ist, kann und soll man jede ANNÄHERUNG ans Ziel, also jede Verringerung des Fleischkonsums, goutieren. Wir begrüßen es ja schließlich auch, wenn weniger gefoltert und vergewaltigt wird!
Faktische und pseudoethische Diskussionen unter der Überschrift „Weniger Fleisch!” schaden der Fleischindustrie also nicht. Auf einer anderen Ebene NÜTZT aber „Weniger Fleisch!“ der Fleischindustrie sogar! „Weniger Fleisch!” ist nämlich de facto ein ausgezeichnetes Vehikel, um MEHR Fleisch zu verkaufen, weil „Weniger Fleisch!” ein optimaler Aufhänger für Werbe-Elemente zur VERBESSERUNG des Fleisch-Images ist: „bewußter essen”, „besser essen”, „Respekt erweisen”, „biologisch”, „ökologisch”, „nachhaltig” usw.
Zusammenhängend liest sich das dann etwa so: Wir müssen zurückfinden zu einer natürlichen Ernährung, uns selbst als Teil eines größeren Ganzen begreifen, bewußter essen, weniger, aber dafür besseres Fleisch essen, den Tieren Respekt erweisen. Das nützt unserer Gesundheit und schont die Umwelt.
Bemerkenswerterweise geht diese Einbettung des Fleischessens in einen positiv besetzen weltanschaulichen Rahmen einher mit der Entmoralisierung des Fleischessens selbst: Tiere werden nicht (mehr) als moralisch relevante Subjekte wahrgenommen, anders ausgedrückt: Die Frage, ob Fleischessen IM HINBLICK AUF DIE TIERE ethisch zu rechtfertigen ist, wird ernsthaft kaum mehr gestellt. Zwei Beispiele für diese Entmoralisierung des Fleischessens bzw. des Vegetarismus:
- In einer großen Verlagswerbung für das Buch von Duve wird der „radikale Verzicht auf die Moralkeule” gelobt. Welch Absurdität! Menschenrechtler agieren IMMER mit der „Moralkeule”!
- „Man muß kein Vegetarier sein, um fleischloses Essen zu genießen”, heißt es anderswo. Soll heißen: Nicht so verbissen sein, liebe Leute, es geht doch auch „ganz undogmatisch” – Hauptsache, es schmeckt!
Das paradoxe Ergebnis der ganzen „Weniger Fleisch!”-Rhetorik ist, daß mindestens gleich viel Fleisch gegessen wird – aber jetzt mit gutem Gewissen! Das Fleischessen wurde „zukunftstauglich” gemacht: weltanschaulich, ethisch, ökologisch, argumentativ abgesichert. Noch nie war der – nicht stillschweigende, sondern offen ausgesprochene! – gesellschaftliche Konsens darüber, daß Fleischessen „normal” ist, so gefestigt wie heute.
Wir befinden uns an einem Scheideweg: Entweder kann an die Tierrechtsbewegung, wie sie im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte, angeknüpft werden oder die Tierausbeutung geht ewig weiter. Um den richtigen Weg einzuschlagen, muß die Entmoralisierung des Fleischessens rückgängig gemacht und die ethischen Elemente der Tierrechtsidee wiedereingeführt werden:
- Die mediale Präsenz der Fleischthematik soll genutzt werden.
- Aber die verhängnisvollen „Weniger Fleisch”-Parolen, die Fleischproduzenten und Fleischkonsumenten in trauter Einigkeit verbreiten, dürfen nicht gedankenlos nachgeplappert werden.
- Vielmehr müssen die ethischen Aspekte des Fleischessens betont werden.
Zum Beispiel anhand des über jeden Zweifel erhabenen Gleichheitsprinzips: Gleiches bzw. Ähnliches muß auch gleich bzw. ähnlich bewertet und behandelt werden. Natürlich behauptet kein vernünftiger Mensch, daß Menschen und Tiere in einem faktischen Sinne gleich wären. Menschen und Tiere haben – wie die Menschen untereinander – unterschiedliche INTERESSEN. Deshalb wäre es auch völlig verfehlt, Menschen und Tiere gleich zu BEHANDELN, denn unterschiedliche Interessen erfordern und rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. So brauchen etwa Hunde und Katzen im Unterschied zu Menschen keine Religionsfreiheit und kein Wahlrecht. So wie Männer im Unterschied zu Frauen keinen Schwangerschaftsurlaub brauchen.
Was das Gleichheitsprinzip fordert, ist schlicht: WO Menschen und Tiere ähnliche Interessen haben, da sollen wir diese ähnlichen Interessen auch moralisch GLEICH BERÜCKSICHTIGEN:
- Weil alle Menschen ein Interesse an angemessener Nahrung und Unterkunft haben, sollen wir dieses Interesse auch bei allen Menschen gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund von Rasse oder Geschlecht vornehmen.
- Und weil sowohl Menschen als auch Tiere ein immenses Interesse haben, nicht zu leiden, sollen wir dieses Interesse bei Menschen und Tieren auch gleich berücksichtigen – und dürfen nicht willkürliche Diskriminierungen aufgrund der Spezies vornehmen.
Die Tierrechtsbewegung ist die konsequente und notwendige Fortsetzung der Befreiung der Sklaven, der (amerikanischen) Bürgerrechtsbewegung und der Emanzipation der Frauen. Immer geht es darum, moralische Diskriminierungen aufgrund moralisch belangloser Merkmale zu erkennen und zu überwinden:
- Wir haben erkannt, daß die Hautfarbe belanglos ist.
- Wir haben erkannt, daß die Geschlechtszugehörigkeit belanglos ist.
- Wir sollten erkennen, daß auch die Spezieszugehörigkeit moralisch belanglos ist:
Warum sollte man jemanden quälen dürfen, weil er zu einer anderen Spezies gehört? Gleicher Schmerz ist gleich schlecht, egal ob er von Weißen, Schwarzen, Männern, Frauen, Kindern oder Tieren erlebt wird. Die Ausbeutung und Diskriminierung aufgrund der Spezies ist genauso falsch wie Rassismus und Sexismus.
Wer meine Tierrechtsarbeit unterstützen will: https://www.paypal.me/helmutkaplan
Zur Person: https://tierrechte-kaplan.de/biografie/