Tiere haben Rechte
Helmut F. Kaplan
Tierrechte sind heute, was die wenigsten wissen, Gegenstand philosophischer Vorlesungen und Seminare auf Universitäten in der ganzen Welt. Niemand kann die Literatur zu diesem Thema in ihrer Gesamtheit mehr überblicken. Primäre Funktion der Tierrechtsphilosophie ist aber keineswegs, neue Theorien zu schaffen, sondern vielmehr, unseren Blick für das (wieder) zu schärfen, was wir sehen und begreifen würden, wären wir nicht durch falsche Ideologien, Weltanschauungen und Religionen heillos verwirrt und irritiert worden.
Selbstverständlich haben Tiere Rechte. Tiere haben wie Menschen einen Anspruch darauf, auf eine bestimmte Weise behandelt zu werden. Die Art dieser Rechte richtet sich bei Tieren wie bei Menschen nach den Interessen der jeweils Betroffenen. Was für den einen höchst bedeutsam ist, mag für den anderen völlig belanglos sein.
So haben und brauchen etwa Kinder aus offensichtlichen Gründen kein Recht, keinen Anspruch, auf einen Platz im Altenheim. Und Männer benötigen im Unterschied zu Frauen kein Recht auf Schwangerschaftsurlaub, weil sie nicht schwanger werden können. Ebensowenig brauchen Hunde im Unterschied zu Menschen ein Recht auf Religionsfreiheit, weil sie keine Religion haben.
Der Zweck von Rechten ist stets der gleiche: den Rechtsträgern ein soweit als möglich angemessenes, das heißt ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechendes Leben zu ermöglichen.
Im deutschen Sprachraum hat sich als Bezeichnung für die Bewegung, die auch Tieren solche grundsätzlichen Rechte zugestehen will, der Name „Tierrechtsbewegung“ eingebürgert. Durchaus üblich ist aber auch die Bezeichnung „Tierbefreiungsbewegung“. Damit wird Bezug genommen auf vergleichbare vorangegangene Bewegungen, etwa auf jene zur Befreiung der Sklaven oder zur Emanzipation der Frauen.
Die Tierrechtssbewegung ist in der Tat die konsequente Fortsetzung dieser Befreiungsbewegungen: So wie wir erkannt haben, daß die Hautfarbe für die Gewährung von grundlegenden Rechten belanglos ist und daß die Geschlechtszugehörigkeit hierfür belanglos ist, so erkennen heute weltweit immer mehr Menschen, daß auch die Spezieszugehörigkeit hierfür belanglos ist: Warum soll man jemanden ausbeuten und quälen dürfen, weil er zu einer anderen Spezies gehört? Rassismus, Sexismus und Speziesismus befinden sich logisch und ethisch auf der gleichen Ebene.
Während sich der traditionelle Tierschutz de facto mit der „Reformierung“ oder „Humanisierung“ der Ausbeutung von Tieren begnügt, fordert die Tierrechtsbewegung die Beendigung dieser Ausbeutung. Denn eine „Humanisierung“ etwa der Schlachtung ist letztlich ein ebensolches Unding wie eine „Humanisierung“ von Sklaverei oder Folter oder die Zulassung von „sanfter Vergewaltigung“.
Das Neue an der Tierrechtsbewegung ist vor allem ihr explizit rationaler Charakter. Alle vorangegangenen Initiativen zur Verbesserung des Loses der Tiere hatten, zumindest auch, religiöse, ideologische oder esoterische Wurzeln – mit einem verheerenden Nebeneffekt: Alle Thesen, Diskussionen und Forderungen wiesen stets einen hohen Glaubensanteil auf und waren daher entsprechend angreifbar. Vor allem aber:
Lehren und Einstellungen, die mit einem bestimmten Glauben verknüpft sind, sind in ihrer Wirksamkeit von vornherein auf diejenigen beschränkt, die diesen Glauben teilen. Wer etwa, um ein Beispiel zu nennen, den Veganismus mit dem Glauben an die Seelenwanderung begründet, kann nur diejenigen überzeugen, die an die Seelenwanderung glauben.
Der strikt rationale Charakter der modernen Tierrechtsbewegung kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß sie ihre Kritiker konkret fragt, warum denn Tieren eigentlich keine Rechte zugestanden werden sollte. Als Antwort hierauf kommt regelmäßig der Hinweis auf bestimmte, nur dem Menschen zukommende Eigenschaften oder Fähigkeiten – etwa Autonomie, Rationalität oder Selbstbewußtsein.
Unleugbare, wissenschaftlich unwiderlegbare Tatsache aber ist: Kein einziges Merkmal, das vernünftigerweise irgendwie als moralisch relevant angesehen werden kann, verläuft entlang der Speziesgrenze Mensch – Tier. Mehr noch: Es gibt immer Tiere, bei denen das betreffende Merkmal sogar stärker ausgeprägt ist als bei bestimmten Menschen.
Wenn wir, um bei den obigen Merkmalen zu bleiben, an Autonomie, Rationalität und Selbstbewußtsein als Voraussetzung für die Verleihung von Rechten festhalten, dann müssen wir komatösen Menschen, vielen geistig behinderten, geisteskranken und hirngeschädigten Menschen sowie allen kleinen Kindern jedwede Rechte absprechen.
Formulieren wir hingegen die Kriterien für das Zugestehen von Rechten so großzügig, daß sie auch von diesen Menschen erfüllt werden, müssen wir konsequenterweise auch vielen Tieren, die wir heute täglich millionenfach für Versuchszwecke quälen oder für Ernährungszwecke töten, Rechte verleihen, da sie diese Kriterien spielend erfüllen.
Um dem unausweichlichen Dilemma zu entkommen, daß viele Menschen, denen wir Rechte nicht absprechen wollen, in bezug auf beliebige Merkmale ein deutlich niedrigeres Niveau aufweisen als viele Tiere, wurden mehrere argumentative Fluchtmöglichkeiten ersonnen. Diese haben sich letztlich aber ausnahmslos als Sackgassen erwiesen. Es gibt schlicht keine rationale Rechtfertigung für die gegenwärtige Praxis, Tieren Rechte abzusprechen.
Die Frage „Tierrechte – ja oder nein?“ ist deshalb auch weniger eine philosophische als vielmehr eine politische: Sind wir bereit, auch die Rechte der Schwächsten, die uns hilflos ausgeliefert sind, zu respektieren, oder wollen wir auch weiterhin gemäß dem praktischen, aber barbarischen „Recht des Stärkeren“ handeln? „Wir leben zwar“, schreibt Alexander Solschenizyn, „im Computerzeitalter, aber noch immer nach dem Grundgesetz der Steinzeit: Wer den größeren Knüppel schwingt, hat auch recht. Bloß wahrhaben wollen wir es nicht.“
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